Mehr als Möbel-Kitsch: Warum du nicht über Gelsenkirchener Barock lästern solltest
Schrankwand als echtes Kulturgut
Vor 25 Jahren Ausstellung über Gelsenkirchener Barock
Todesursache: Schwedisches Möbelhaus
Gelsenkirchen.
Fast jeder hat den Begriff „Gelsenkirchener Barock“ mal gehört. In ganz Deutschland. Häufig wird er verwendet für Kitsch. Hirsche aus Porzellan, zum Beispiel. Mit Goldrand. Oder gekachelte Wohnzimmertische. Aber das ist Quatsch.
Eigentlich ist damit ein Wohnküchenschrank gemeint. Und eigentlich wird ihm sein schlechter Ruf echt nicht gerecht. Er ist sogar Kulturgut und Sozialgeschichte. Das sagt auch Wiltrud Apfeld, Historikerin und Leiterin des Gelsenkirchener Kulturzentrums „die flora“.
Sie hat vor 25 Jahren an einer Ausstellung zum Thema mitgearbeitet. Und uns erzählt, was es mit dem Begriff auf sich hat.
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Gelsenkirchen ist in den Dreißigerjahren eine kräftige Industriestadt. Bergbau und Stahlproduktion sind Grundlage für bescheidenen Wohlstand der Menschen. Und der Schrank ist stolzer Ausdruck dieses Komforts.
Barfach, Kühlschrank. Manchmal sogar Marmor. Ein Klotz aus Nussbaum, Messing und Wurzelholz.
Apfel sagt: „Manche Schränke sehen aus, als hätte einer davorgestanden und gedacht, och, hier mach‘ ich noch ’ne Welle dran.“
Der Witz: Damalige Neuheiten wie Fernseher und Kühlschrank wurden im Schrank versteckt. Der war genug Statussymbol. Repräsentatives Äußeres, funktionales Inneres.
Ein Schrank namens Erfolg
Gebaut wurden die Schränke meist in Westfalen-Lippe. Auch sie hatten eigene Namen (wie heutige Schränke auch). Worms, Bayreuth oder Erfolg hießen sie. Wiltrud Apfel vermutet, dass einer von ihnen Gelsenkirchen gehießen haben könnte.
Genauso hätte der Begriff Bayreuther Barock entstehen können. Ist er aber nicht.
Irgendwann auf einer Möbelmesse muss dann mal jemand gesagt haben: „Och nöö, keinen Bock mehr auf Gelsenkirchener Barock.“ Das muss etwa Mitte der Fünfzigerjahre gewesen sein. Design und Interieur wurden damals immer wichtiger.
Wiltrud Apfel sagt, dass der Begriff in der Presse runtergeschrieben wurde. Und dass das Wirtschaftswunder ab den Fünfzigerjahren eben einen anderen Geschmack verursacht hat.
Tod durch Möbelhaus
„Mit dem negativ belegten Begriff kämpfen die Gelsenkirchener noch heute“, sagt sie. Dabei ist der Schrank Beispiel einer neuartigen Möbelproduktion. Ausdruck echten Fortschritts.
Aber er wird nicht mehr produziert. Und er und seine Nachfolger sterben immer mehr. Getötet unter anderem von diesem schwedischen Möbelhaus. Und von einem offenen Wohnraum, in dem Schränke in der Ecke und Fernseher im Mittelpunkt stehen. Einrichtung ändert sich eben wie Modegeschmack.
Was aber bleibt, ist die wichtige geschichtliche Bedeutung, die der Gelsenkirchener Barock nie verlieren wird, sagt Historikerin Wiltrud Apfel. „Und wir lassen uns ja nicht vorwerfen, wir hätten schlechten Geschmack.“
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