Wieso in die Bar gehen, wenn davor mehr Leute stehen und das Bier billiger ist? Das denken sich in den Städten viele. So hängen sie an der Straßenecke ab – und „cornern“.
Hamburg.
Auf der Straße vor dem Grünen Jäger im Hamburger Stadtteil St. Pauli ist es mal wieder voll. Die Nacht ist lau – und statt in Club, Bar oder Kneipe zu gehen, stehen und sitzen die jungen Hippen lieber mit dem Bier auf dem Bürgersteig. Hundert sind es bestimmt. Sie „cornern“ (der Begriff ist vom englischen Wort „corner“ für „Ecke“ abgeleitet) – und das ist mehr, als einfach nur auf der Straße abzuhängen.
„Der beste Ort zum Cornern ist, wo deine besten Kumpels und so sind“, hat der deutsche Rapper MC Fitti unlängst in einem YouTube-Video erklärt. Sogar der Hamburger Stadtreinigung ist der Straßeneckentrend ein Begriff: „Schattenseiten des guten Wetters: Durch #Cornern und #Abhängen nimmt Verschmutzung in #Schanze u #SanktPauli stark zu“, schrieb die Pressestelle Anfang August im Kurznachrichtendienst Twitter. Ähnlich dürfte die Situation in praktisch allen größeren Städten in Deutschland sein – ob Berlin, München, Köln, Frankfurt oder Stuttgart.
Jugendphänomene wie das Cornern bilden sich als Alternative zu etwas Bestehendem heraus, sagt der Hamburger Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt. Die Argumente fürs Cornern: draußen statt drinnen, günstig statt teuer, selbst gewählte Musik statt vorgegebene. Außerdem hängt man nicht nur mit seinen Freunden ab – schließlich wechselt die Zusammensetzung an der Ecke ständig. Cornern ist ungezwungen und bildet einen Gegenpol zum Konsum, wie Reinhardt sagt.
Beim Cornern geht es ums Sehen und Gesehen werden
Die Straßenecke ist also die neue Bushaltestelle, der neue McDonald’s-Parkplatz, der neue Spielplatz, der neue Schulhof. Denn auch beim Cornern geht es ums Sehen und Gesehen werden, sagt Trendforscher Sven Gábor Jánszky von der Denkfabrik 2b Ahead (dt.: vorn sein) in Leipzig. „Es ist derselbe Grund, warum man früher in bestimmte Clubs gegangen ist.“ Natürlich hat der Club noch immer seine Berechtigung. „Aber er verliert ein Stück weit an Status, an Alleinstellung.“
Doch Cornern per se ist gar nicht neu. Das von Breakdancern und Hip-Hoppern geprägte Phänomen aus der New Yorker Bronx hat sich lediglich erst vor einiger Zeit im deutschen Mainstream etabliert. „Unter Hip-Hoppern war die Straßenecke echt ein Statement“, sagt Jánszky. Ein Anti-Kommerz-Statement. Heute gehe es vor allem ums Anderssein – auch wenn der Drink an der Straßenecke in der Tat preiswerter ist.
Ein Trend muss eben nicht immer neu sein, sondern relevant werden, sagt Jánszky. Dabei spielt der Zufall mit: Das Verhalten entsteht zufällig in einer kleinen Szene und schwappt zufällig über auf die Masse. Beim Cornern hat es geklappt.
„Jeden Tag cornern von früh bis späti, Hängen am Späti, hängen am späti“, so drückt es MC Fitti aus, wobei „Späti“ vor allem in Berlin für Spätkauf steht. Bleibt nur offen, ob sich die Ecke auch bei Regen durchsetzt. (dpa)