Essen.
Es gab Zeiten, da brauchte Boris Grundl vierzig Minuten, um sich eine Socke anzuziehen. Und damit war der Mann ja noch nicht wirklich angezogen. Er war Vertreter. Also hatte er ein Zeitproblem. Er war Vertreter einer Rollstuhl-Firma. Und nebenbei komplett gelähmt.
Heute lacht er darüber. Nicht, dass er heute nicht mehr gelähmt ist. Oder dass es ihm körperlich deutlich besser geht. Er hat Probleme, überhaupt zu sitzen. Auch wenn er alles tut, damit es keiner merkt. Beim Telefonieren klingt das, als spaziere er mit Stechschritt durch ein Hightech-Büro. Teuflisch dynamisch. Oder die Fotos auf seinen Büchern: „Alles Show. Wenn Sie mich sehen könnten!” ruft er in das Mikro seines Kopfhörers. Ein Mann liegt kopfüber mit dem Rumpf auf dem Schreibtisch, weil das noch die stabilste Lage ist.
Grundls Stärke ist das Lernen. Er hat einfach alles gelernt. Hat sich so lange die Socken angezogen, bis er eben nur noch wenige Minuten dafür brauchte. So wurde er wendig. Längst verkauft er keine Rollstühle mehr. Er ist einer der erfolgreichsten Coaches für Manager. Seine Seminare sind stets ausgebucht. Warum, wieso, wie das alles ging? Grundl lacht. Es ging eben. Vielleicht, weil er glaubwürdig ist. Wenn einer wie er wieder aufsteht, lässt sich auch kein noch so krisengeschüttelter Manager hängen. Buchautor ist Grundl auch. Und glücklich noch dazu. Trotz Lähmung. „Nein”, sagt er. „Wegen der Lähmung.“
Ein Sprung ins Wasser. Als er gerade 25 Jahre alt war, prallte er, das junge Tennistalent, kopfüber auf eine Klippe. Das, was da 1990 in Mexiko passierte, war ein Schicksalsschlag. „Ein positiver.” Ist der Mann verrückt? Über so eine Frage freut sich Grundl.
Boris Grundl wollte Karriere machen im Sport. Und dann kam der Tag, als er im Wasser lag. Nichts ging mehr. Nur noch der Gedanke: „So muss es sein, wenn du stirbst.”
Er starb nicht. Wurde aus dem Wasser gezogen. Aber er war querschnittsgelähmt. „Wofür war das jetzt gut?” Wer so eine Frage stellt, gehört nicht zu denen, die aufgeben. „Was geht jetzt noch?” fragte er stattdessen.
Erst einmal ging gar nichts. Wie soll man ertragen, dass man nicht alleine zum Klo kann, nichts selbstständig kann? Wie mit dem vielen Mitleid leben, wenn man nur eins will: selber machen.
Seine Medizin war sein Wille aus Stahl. Nach außen war er behindert, aber innen war diese Kraft bei ihm, die ihn selbst überraschte. „Ich wusste ja gar nicht, was ich für einen inneren Raum in mir hatte.” So spricht ein Coach. Ein innerer Raum – dabei konnte er nach zig Operationen immer noch nichts bewegen.
Falsch! Falsch! Falsch! Sein Daumen arbeitete. „Erst dachte ich, wie – nur der Daumen? Und dann überlegte ich, was man damit alles tun kann.” Tastaturen betätigen, in Büchern blättern. Er glaubte, die Welt bewegen zu können. „Obwohl ich Pflegestufe drei bekam und von Sozialhilfe lebte.“
Man kann lange mit Grundl über die vielen Möglichkeiten des Lebens sprechen, nicht aber über die Unmöglichkeiten. Nörgeln, jammern, klagen geht nicht.
Grundl kann schimpfen. Über alles, was sich nicht freut. Über alles, was nicht kämpft. Über jeden, der nicht sehen will, wie sehr das Leben ein Geschenk ist. Diese Überzeugung kommt von irgendwo tief innen heraus.
Man muss zweifeln
Er ist Lebenskünstler und trotzdem extrem skeptisch, was Kurzformeln fürs Überleben angeht. Positives Denken zum Beispiel. Ein Wortpaar, das ihn wütend macht. „Man muss auch zweifeln können, mit sich hadern, auch pessimistisch sein. Alles andere ist oberflächlich und kotzt mich an.”
Grundl liebt es, die Dinge auf ihre Spitze zu treiben. Und nimmt sich selbst nicht aus. „Lieber Querschnitt als Durchschnitt” , so etwas sagt er, den Schock einkalkulierend, den das beim Zuhörer hinterlässt. Er sagt das auch, weil er der Überzeugung ist, dass er diese Umstand braucht, um seine Erfüllung zu finden. Und an seine Grenzen zu gehen: Er ist verheiratet und Vater einer Tochter! Er tat alles medizinisch Mögliche, um nicht das zu sein, was manche dachten: „schwanzloser Krüppel”.
Grundl ist glücklich, sagt er. Vielleicht, weil er die Hölle kennengelernt hat. Ob das der Grund ist, warum er diese so verstörenden Worte sagen kann – „ja, ich würde wieder springen”.