Dienstag, 17. Juni – vor genau 20 Jahren also wurde der Football-Star O. J. Simpson nach dem Mord an seiner Ex-Frau und deren Freund verhaftet, später freigesprochen. An jenem Tag fuhr ein weißer Bronco mit konstant 60 Meilen in der Stunde über einen Freeway im Süden von Los Angeles. Eine halbe Ewigkeit lang. Und 95 Millionen sahen zu.
Washington.
Die Mondlandung. Kennedys Ermordung. Die Raumfahrt-Katastrophe um die Challenger. Hurrikan Katrina. Das Ende Osama Bin Ladens. Der Terror von 9/11. Es gibt nicht viele Momente, an die sich die amerikanische Radio-und-Fernseh-Nation nahezu geschlossen erinnern kann. Der 17. Juni 1994 gehört dazu. An jenem Tag fuhr ein weißer Bronco mit konstant 60 Meilen in der Stunde über einen Freeway im Süden von Los Angeles. Eine halbe Ewigkeit lang. Und 95 Millionen sahen zu.
Polizeiautos folgten dem Wagen wie in einer merkwürdigen Prozession. Hubschrauber der Fernseh-Sender flogen mit ihren Kameramännern Spalier. Schaulustige versammelten sich zu Hunderten am Straßenrand und feuerten einen der beliebtesten Football-Spieler des Landes an, als er versuchte zu fliehen: Orenthal James Simpson. Kurz O. J. gerufen. Oder „The Juice“, weil die Initialen doch auch für Orangensaft stehen. Der ehemalige Running Back der Buffalo Bills, damals 46, stand unter dem dringenden Verdacht, wenige Tage zuvor seine Ex-Frau Nicole Brown und ihren Freund Ron Goldman am Bundy Drive im Nobel-Stadtteil Brenntwood auf bestialische Weise mit einem Messer umgebracht zu haben.
Eine Goldgrube für die Medien
Ein prominenter Schwarzer, noch dazu eine Sport-Ikone aus dem Ghetto, als Täter. Zwei weiße Opfer, darunter eine attraktive Blondine. Gestern noch Volksheld, heute Doppelmörder – Amerika sah mit wohligem Gruseln in einen Abgrund und hielt den Atem an. Eine Goldgrube für viele Medien. Die erste Live-Verfolgungsjagd im modernen Fernsehzeitalter endete mit einem Sieg der Staatsgewalt. Simpson ergab sich, revanchierte sich im Oktober 1995 im Gerichtssaal. Freispruch trotz Indizien, die normalerweise für drei Mal lebenslänglich gereicht hätten. Aus Mangel an Beweisen.
20 Jahre danach spaltet das Urteil Amerika noch immer entlang überwunden geglaubter Rassen-Grenzen. Unter Afro-Amerikanern, so haben jüngst Umfragen ergeben, erfährt der 66-Jährige fast ungebrochene Nachsicht. Tenor damals wie heute: „Ein schwarzer Mann, der beschuldigt wurde, eine weiße Frau getötet zu haben, wurde freigesprochen worden – gut so, denn früher brachte das System verlässlich den Schwarzen hinter Gitter.“ Viele Weiße halten Simpson unverändert für ein Monster. Lesart: „Er hat zwei Menschen umgebracht und ist damit durchgekommen.“ Obwohl O. J. Simpson später in einem Zivilverfahren zu einer Entschädigungszahlung von 33 Millionen Dollar verklagt wurde, verspüren allen voran die Angehörigen der Opfer keine Genugtuung.
Rund um den morgigen Jahrestag sind Zeitungsspalten und Fernseh-Programme voll mit Rückblicken. Dabei ist jedes Detail der blutigen Tragödie in den USA mittlerweile Allgemeingut. Trotzdem wird das Publikum mit „sensationellen neuen Beweise“ und „Zeugen, die zum ersten Mal das Wort ergreifen“ angefüttert. Dünne Kost fast durchweg, die selten der Wahrheitsfindung dient. Dafür dem Kommerz. Und ein riesiges Geschäft war der Fall O. J. Simpson schließlich von Anfang an.
Der blutige Handschuhe passte ihm nicht
Der acht Monate lange Geschworenen-Prozess war der erste seiner Art in der amerikanischen Justiz-Geschichte, bei dem Live-Kameras im Gerichtssaal zugelassen waren. Richter Lance Ito begründete die dammbrechende Entscheidung mit dem „hohen Informationswert für die Nation“. Es wurde die erste große Fernseh-Reality-Skandal-Show im Cinemascope-Format.
Richter, Jury, neun Schwarze, zwei Weiße und ein Latino, und fast sämtliche Zeugen wurden mit Misstrauensanträgen bombardiert. Das sechsköpfige Verteidiger-Team um die Stars Robert Shapiro und Alan Dershowitz unternahm bis über den Rand der Legalität hinaus alles, um Simpson in ein mildes Licht zu tauchen. Die Anklage gründete auf Beweisen, die der leitende Ermittler Mark Fuhrman gesammelt hatte. Ein weißer Polizist, schon vorher für rassistische Ausbrüche bekannt gewesen. Der blutige Handschuh, mir dem er Simpson überführen wollte, passte dem Angeklagten nicht – zu klein. Fuhrman wurde im Zeugenstand beim Lügen erwischt.
O. J. Simpson verließen nach dem Freispruch alle guten Geister. In seinem Skandalbuch „If I Did It“ (Wenn ich es getan hätte…) legte er ein fiktives Geständnis des Mordes an seiner Exfrau und ihrem Freund ab und ließ sich in einem Video zynisch mit einem Messer ablichten. 2007 bekam der Altstar aus Sicht seiner Kritiker doch noch die Quittung. Bewaffneter Raubüberfall auf einen Souvenir-Händler, der geldwerte Simpson-Devotionalien hortete. Neun Jahre Haft. Freiheitsentzug bis mindestens 2017. Und dann? Dann weiß man im Mordfall Brown/Goldman immer noch nicht: War er’s damals oder war er’s nicht?