Ein ehemaliger Schüler der Odenwaldschule erinnert sich: Der Schulleiter trat in der Dusche an ihn heran. Über diese und andere schlimme Erlebnisse hat Jürgen Dehmers ein Buch geschrieben.
Essen.
Vor kurzem war es mal wieder so weit. Jürgen Dehmers wacht auf, mitten in der Nacht, mit jenem Gefühl von Panik, das ihm nur allzu vertraut ist. Er spürt ihn. Wie er direkt neben seinem Bett steht. Er riecht ihn. Diesen Geruch, der für ihn auf immer und ewig mit Gerold Becker verbunden ist. Mariacron und Samson. Eben das, was der ehemalige Schulleiter der Odenwaldschule ständig konsumierte. Jürgen Dehmers ekelt sich, sein Körper schaltet sofort auf Alarm, will fliehen. Ganz so wie der kleine Junge, der er mal war.
Ein sonniger Herbsttag in einer deutschen Großstadt, am Ufer ihres Stroms. Jürgen Dehmers, so das Pseudonym, mit dem er sich schützt, mag keine geschlossenen Räume. Nichts, was ihn einengen könnte. Deshalb erzählt er seine Geschichte lieber unter freiem Himmel. Der 42-Jährige ist jener Mann, der den Missbrauchsskandal um die Odenwaldschule aufdeckte. Er selbst ist jahrelang von Gerold Becker, dem Schulleiter der einst so renommierten Reformschule, sexuell missbraucht worden. Eines von 132 Opfern laut einem Untersuchungsbericht.
„Ich war 13, als es anfing“
„Ich war 13 Jahre, als es anfing, 16, als es endete, weil ich endlich alt und kräftig genug war, um Becker anzuschreien und mit aller Kraft zurückzustoßen“, sagt er. Noch viel länger hat es gedauert, bis er es schaffte, zum ersten Mal über den Missbrauch zu reden und ein weiteres Jahrzehnt bis man seine Vorwürfe ernst nahm, bis eine breite Öffentlichkeit davon erfuhr. Inzwischen geht der Opferverband „Glasbrechen“ davon aus, dass Hunderten von Kindern und Jugendlichen in der Odenwaldschule ähnliches widerfahren ist. Und nun, wo man ihnen endlich glaubt, kämpfen sie, die zum Teil schwerst traumatisiert sind, um Schmerzensgeld. Bislang vergeblich.
Zwölf Jahre alt war Jürgen Dehmers, als er Anfang der 80er-Jahre in die Odenwaldschule kam. Er war kein Promi-Kind, wie es so viele an der Odenwaldschule gab und gibt. Kein Porsche. Kein Beuys. Kein von Weizsäcker. Er stammt aus einer schwierigen, einer gescheiterten Ehe. Seine Eltern sind noch Teenager, als er geboren wird. Als sie sich trennen, als die Mutter psychisch erkrankt, geben sie ihn in das Internat. In die liberale Reformschule, deren Leiter Neulinge begrüßt mit den Worten: „Hier auf der Odenwaldschule ist alles erlaubt!“
Die Dusche nutzten sie gemeinsam
Was dieses „alles“ bedeutete, hinter den ach so idyllischen Schiefer-Fassaden, sollte Dehmers bald erfahren. Dass sie Alkohol tranken, wann und so viel sie wollten, dass sie offen Joints rauchten, dass die vermeintlich familiäre Nähe zu den Lehrern eine gefährliche, eine dunkle Seite hatte. Dehmers wohnte im sogenannten Herder-Haus, war Teil von Gerold Beckers Internats-Familie. Er war 13, als der Schulleiter sich erstmals an ihm verging. Unter der Dusche, die sie, Lehrer wie Schüler, gemeinsam nutzten.
Unter dem Vorwand, dem Jungen, der sich beim Fußball die Hand aufgerissen hatte, zu helfen, steht Becker plötzlich nackt neben ihm. Shampooniert ihm erst fürsorglich die Haare, dann die Genitalien. „Ich erstarrte, ich bekam einen Adrenalinausstoß … Ich dachte nichts und alles gleichzeitig. Wollte ich weglaufen? Wollte ich mich wehren? … Die Nähe zu Becker war unerträglich. Seine Erregung. Sein Geruch, seine Hand an meinem Geschlecht … Es dauerte ewig. Plötzlich war es vorbei. Becker zog seinen Bademantel an … und ging. Grußlos. Wortlos. Schamlos.“
Von diesem Moment an setzte sich der Schulleiter jeden Morgen an Dehmers Bett, ritualisierte den Missbrauch. Drei lange Jahre, in denen Dehmers immer aggressiver wurde. Er trank, stahl, prügelte sich. Dazu kamen Panikattacken, das Gefühl, jemand verfolge ihn. Jürgen Dehmers blieb bis zum Abitur in der Odenwaldschule. In dieser Zeit redete er nicht darüber, was Becker ihm angetan hatte. „Andere erzählten offen davon. Einige machten ihre Witze. Aber jeder könnte es sehen, hören, fühlen, was geschah.“
Ein Ironman in der Traumabehandlung
Dehmers hat einen Alkohol-Entzug hinter sich, eine Therapie in einer psychosomatischen Klinik und befindet sich seit drei Jahren in einer Traumabehandlung. Wer sich mit ihm unterhält, begegnet einem blonden, sehr sportlichen Mann, der ständig in Bewegung ist, der sich immer wieder viel abverlangt. Den Ironman-Triathlon etwa, ein Einser-Examen und nun dieses Buch, in dem er all das, was ihm geschah, aufgeschrieben hat. 100 000 Euro Schmerzensgeld für jedes Missbrauchsopfer würde er als gerecht empfinden. Das entspreche dem Schulgeld, das für ihn bezahlt worden sei. Dass die Odenwaldschule dann ruiniert wäre, stört ihn nicht. Im Gegenteil. Dehmers: „Ich bin dafür, sie dicht zu machen. Das System hat sich nicht verändert. Es gibt keine Kontrolle!“
Jürgen Dehmers hat seine Erfahrungen verarbeitet in dem Buch: „Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch“ (19,95 Euro, 320 S., Rowohlt). Darin schildert er anschaulich das „System Odenwaldschule“ und erklärt, warum es so lange funktionierte. Die real existierende Hauptfigur in diesem Horror-Krimi, der ehemalige Schulleiter Gerold Becker, ist im Juli 2010 in Berlin gestorben.