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Wenn Kinder von zuhause ausziehen

Wenn Kinder von zuhause ausziehen

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Dinslaken. 

Wenn Kinder flügge werden und ausziehen, ist das auch für viele Eltern eine große Herausforderung. Familientherapeuten wissen, wie viel Unterstützung und Kontakt in einer erwachsenen Beziehung zwischen Eltern und Kind gesund sind.

Julia Saborowski starrt konzentriert auf den Bildschirm ihres Laptops. In letzter Zeit verbringt sie Stunden vor dem Rechner – und das täglich. Die 19-jährige Dinslakenerin durchforstet das Internet nach Wohnungsangeboten. Im Oktober will sie nach Kassel in Hessen ziehen, um dort zweieinhalb Stunden von ihrem Elternhaus entfernt Englisch und Politikwissenschaften zu studieren.

Neue Stadt, neue Leute, neue Wohnung – „Ich freue mich schon sehr auf diesen neuen Lebensabschnitt und bin gespannt darauf, wie es ist, alleine zu wohnen“, sagt die Abiturientin. Doch nicht nur für Julia Saborowski beginnt in wenigen Wochen ein neuer Lebensabschnitt. Auch im Leben ihrer Eltern verändert sich durch den Auszug der Tochter eine Menge.

„Wenn Kinder ausziehen, ist das nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Eltern immer eine große Herausforderung“, sagt die Essener Familientherapeutin Monika Detscher. Während die erwachsenen Kinder lernen müssten, Verantwortung, etwa für den eigenen Haushalt, zu übernehmen, „müssen Eltern plötzlich damit klar kommen, keinen direkten Eingriff mehr auf das Leben ihres Kindes nehmen zu können“, so Detscher.

Offen über Vorstellungen und Ängste sprechen

Oft sei das besonders für Mütter schwierig. „Vor allem für Hausfrauen sind Sohn oder Tochter häufig der Lebensmittelpunkt. Es ist wichtig, dass sie sich neue Ziele setzen.“ Von der Weltreise bis zum Studium können das ganz unterschiedliche Dinge sein. „Irgendetwas, was sie schon immer mal machen wollten, wofür aber während der Kindererziehung keine Zeit blieb“, erklärt die Familientherapeutin. Daneben müssten viele Eltern plötzlich wieder lernen, als Paar zu leben, wenn die Kinder aus dem Haus sind.

Die Entscheidung, dass Tochter Julia künftig in Kassel studieren und wohnen wird, kam für die ganze Familie Saborowski überraschend. „Ich war schon längst an der Fachhochschule in Mönchengladbach für ein Ingenieursstudium eingeschrieben, als ich die Zusage für Englisch und Politikwissenschaften bekam“, erinnert sich die 19-Jährige. „Meinen Eltern hatte ich gar nichts von der Bewerbung erzählt, eigentlich war mir Kassel auch viel zu weit von zuhause entfernt.“ Doch dann lag der Brief mit der Zusage plötzlich auf dem Tisch. Ihre Mutter war es, die Julia Saborowski schließlich dazu ermunterte, zuzusagen. „Wir haben viel über meine Wünsche und Vorstellungen von der Zukunft gesprochen. Sie wusste, dass der Studiengang einfach viel besser zu mir passt“, erzählt sie.

„Es ist wichtig, dass Eltern und Kinder offen miteinander über ihre Vorstellungen und Ängste sprechen, die mit einem Auszug zusammenhängen“, sagt Familientherapeutin Monika Detscher. Auf diese Weise lassen sich auch am besten Spielregeln abstecken, die für die völlig neue Familiensituation von Bedeutung sind: Muss ich meine Eltern täglich anrufen? Darf ich meinem Kind jetzt keine guten Ratschläge mehr geben? Reicht es, wenn ich meine Eltern einmal im Monat besuche oder ist das schon zu viel? Und wie viel Kontakt ist überhaupt gesund?

Eltern müssen ihre Kinder Fehler machen lassen

„All diese Fragen lassen sich nicht pauschal beantworten“, sagt Anja Kemperdiek. In ihrer Praxis hat die Essener Therapeutin beinahe täglich mit Familien und ihren Unsicherheiten zu tun. Daher weiß sie: „Wichtig ist, dass Vereinbarungen getroffen werden, mit denen beide Seiten zufrieden sind, ohne dass dabei für Eltern oder Kind ein Leidensdruck entsteht.“ Doch das ist oftmals leichter gesagt als getan, weiß Kemperdiek: „Junge Erwachsene haben oft große Schwierigkeiten damit, sich von ihren Eltern zu lösen.“ Doch solche „Symbiosen“ zwischen Eltern und Kind sind laut der Familientherapeutin schädlich, denn: „Besonders Mädchen wachsen häufig sehr behütet auf und stürzen sich von dem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern in die Abhängigkeit von Männern.“

Um das zu verhindern, „sollten Eltern ihre Kinder schon lange, bevor sie ausziehen, zur Selbstständigkeit erziehen“, so Kemperdiek. Dazu gehöre auch, die jungen Erwachsenen Fehler machen zu lassen und Kontrolle abzugeben. „Tägliche Anrufe mit der Frage ,Bist du auch warm genug angezogen und hast ordentlich gefrühstückt?’ sind Grenzüberschreitungen, mit denen Eltern ihren Kindern suggerieren ,Wir glauben nicht, dass du eigenständig handeln kannst’“, betont die Familientherapeutin.

Gegen Besuche und regelmäßiges Telefonieren sei allerdings dennoch nichts einzuwenden, betont Monika Detscher. „Wenn beide Seiten damit einverstanden sind und es dazu dient, sich zu erkundigen, was der andere so macht und wie es ihm geht, ist das kein Problem.“ Sollte es dagegen zu keiner Einigung zwischen Eltern und Kind kommen, dann rät Anja Kemperdiek dazu, sich mit der Familie therapeutische Beratung zu suchen, um einen Weg zu finden, mit dem beide Parteien zufrieden sind.

Unterstützung der Eltern bleibt für Kinder wichtig

Der zukünftigen Studentin Julia Saborowski ist es wichtig, „Kontakt zu meiner Familie und meinen Freunden zu halten, auch wenn mein Lebensmittelpunkt bald nicht mehr in ihrer Nähe ist.“ An den Wochenenden will sie deshalb regelmäßig nach Hause fahren. Obwohl sie sich auf das Studium und das Leben in einer neuen Stadt freut, ruft der neue Lebensabschnitt auch bislang unbekannte Ängste in der 19-Jährigen hervor. „Es wird sicher komisch, von der Uni nach Hause zu fahren und zu wissen, dass dort niemand auf mich wartet und sofort danach fragt, wie mein Tag war“, gibt sie zu.

„Eltern sollten ihren Kindern deshalb signalisieren, dass ihre Türen immer offen stehen“, betont Monika Detscher. „Die Kinder müssen wissen, dass sie auch nach dem Auszug wieder nach Hause zurückkommen können und für Probleme gemeinsam mit den Eltern Lösungen und Alternativen gefunden werden können.“ So ist die Unterstützung der Eltern für viele Kinder nicht erst nach, sondern schon vor dem Auszug wichtig. „Gerade während eines Studiums sind viele erwachsene Kinder noch finanziell von ihren Eltern abhängig. Aber sie brauchen auch Unterstützung in ganz alltäglichen Dingen, wie etwa bei der Wohnungssuche“, erklärt die Familientherapeutin.

Auch Julia Saborowski ist dankbar, dass ihre Eltern sie bei der Wohnungssuche begleiten. „Mit vielen Dingen kenne ich mich einfach nicht gut genug aus.“ Das fängt schon bei Kleinigkeiten an. „Meine Eltern achten beispielsweise darauf, ob die Lichtschalter verkleidet sind“, sagt die 19-Jährige und klappt ihren Laptop zu. Drei Wohnungen hat sie sich im Internet ausgesucht. „Und am Wochenende fahre ich mit meinen Eltern gemeinsam nach Kassel, um sie mir endlich anzuschauen.“