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Wie eine Lippenleserin ein wenig den Fußball verändert

Wie eine Lippenleserin ein wenig den Fußball verändert

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1491AA004D650E9E.jpg Foto: dpa
Die gehörlose Internet-Aktivistin Julia Probst schaut Fußball auf ihre eigene Weise. Auf Twitter schreibt sie das, was niemand hört.

Hamburg. 

Mit wachsamen Augen verfolgt die Wahlhamburgerin Julia Probst die Spiele der Fußball-Nationalmannschaft bei der EM. Denn sie bietet einen besonderen Service auf Twitter an: Probst liest die Lippen der deutschen Fußball-Spieler und von Bundestrainer Joachim Löw.

Wenn zum Beispiel Torhüter Manuel Neuer zu Thomas Müller ruft: „Thomas, block, block!“, dann steht es wenige Sekunden später auf ihrem Twitter-Account @EinAugenschmaus. „Das fing bei der Heim-WM an. Da habe ich beim Fernsehen mit Freunden gemerkt, dass ich mehr verstehen kann als meine Freunde und musste bei einer Szene mit Klinsi und Poldi lachen“, schreibt die gehörlose Internet-Aktivistin. Daraufhin hätten ihre Freunde nachgehakt. „Und nach meiner Erklärung, dass ich ablesen kann, was die Spieler und Trainer so sagen, musste ich das dann immer machen.“ Seit 2009 schreibt sie regelmäßig auf Twitter. Mittlerweile hat sie rund 33.000 Follower.

Ihr „#Ableseservice“ bei den Fußballspielen findet inzwischen so viel Beachtung, dass einige beim Sprechen manchmal die Hand vor den Mund halten.

„Ich bin wohl daran schuld, dass die Fußballer und Trainer dies vermehrt tun“, schreibt die für Inklusion und Barrierefreiheit eintretende Aktivistin. „Ich nehme das einfach als Kompliment, denn wer kann schon von sich als Fußballfan behaupten, dass er den Fußball etwas beeinflusst.“

Beim Ablesen von aufgeregten Sätzen oder Flüchen erkennt Julia Probst, „dass da keine Roboter auf dem Feld sind“. Der heutige Fußball sei so überinszeniert, dass er sonst fast steril wirken würde. „Die echte Emotionalität ist aber ein wichtiges Markenzeichen für den Fußball, und das Gesagte auf dem Platz ist ja sehr oft von Emotionalität geprägt, so dass Fußballer und Trainer dadurch authentischer und nicht so abgehoben wirken.“

Auch den Bundestrainer Joachim Löw erlebt die Lippenleserin anders als die Fernsehzuschauer in den besonnenen Interviews vor laufender Kamera – Probst nennt den authentischen Löw deswegen „Wutbärchen Jogi“. Aber nicht jeder Spieler sei auch gleich gut zu verstehen. Bei Jérôme Boateng habe sie Probleme: „Er nuschelt furchtbar, aber er ist trotzdem mein Lieblingsnachbar.“

Von offizieller Seite des DFB gab es zwar noch keinen Kontakt, aber „mir ist mal für einige Zeit ein Spieler der Nationalelf auf Twitter gefolgt – das fand ich ganz witzig“, schreibt die Bloggerin. Einen Lieblingsspieler habe sie aber nicht.

Bei dieser EM vermisst die 34-Jährige „diese gewisse spielerische Leichtigkeit“ im deutschen Team. Aber auch andere Mannschaften wie etwa Österreich wirken auf sie von der Körpersprache her „ziemlich verkopft und unentspannt“. Und es fehlen ihr die herausragenden Einzelspieler wie einst Zinedane Zidane – „er war so begnadet darin, den Ball mit den Füßen zu streicheln und Räume zu finden, die sich dann plötzlich auftaten.“

Die Aktivistin nutzt die Aufmerksamkeit für den Ableseservice auch dazu, um auf die Bedürfnissen von gehörlosen und schwerhörigen Menschen aufmerksam zu machen. So wünscht sich Probst zum Beispiel, dass bei Pressekonferenzen und Videos auf der Homepage des DFB ebenfalls an gehörlose und schwerhörige Fußballfans gedacht wird und die Clips mit Untertitel ausgestattet werden. „Und für das Finale fände ich es wunderbar, wenn Gehörlose aus dem Land der Finalteilnehmer die Nationalhymne im Stadion vortragen dürfen. Das wäre eine großartige Werbung für unsere Gebärdensprache, die die schönste Sprache der Welt ist“, schreibt die Internetaktivistin.

Seit Anfang dieses Monats arbeitet Julia Probst als Assistentin des Vorstands beim Hamburger Gehörlosenverband. Der Verband versteht sich als Interessenvertretung der Gehörlosen, Schwerhörigen und Spätertaubten. „Ganz besonders stolz sind wir auf die Einführung der Gebärdensprache als Wahlpflichtfach an Hamburger Schulen ab kommendem Schuljahr im Herbst“, so Probst. (lem/dpa)

Dieser Text erschien zunächst auf abendblatt.de.