Der SPD-Politiker Egon Bahr hat schwere Vorwürfe gegen den legendären Fraktionschef Herbert Wehner erhoben. „Ein Verräter“ sei der gewesen, sagt er. Aber galt sein Verrat wirklich dem ganzen Land, wie die Konservativen stets argwöhnten?
Essen.
Am 27. April 1972 läuteten Glocken im Ruhrgebiet. Straßenbahnen blieben stehen. In Werken fielen sich Chefs und Arbeiter um den Hals, in Schulen Schüler und Lehrer. SPD-Kanzler Willy Brandt hatte das Misstrauensvotum der Opposition überstanden. Ein sehr großer Teil der Deutschen fühlte sich in den frühen 70er-Jahren sehr nah bei der sozialliberalen Bundesregierung, die „mehr Demokratie“ wollte und eine neue Ostpolitik des „Wandels durch Annäherung“.
Es war ein Stück weit ein Scheinglück. Denn in der wohl erfolgreichsten Phase der bundesdeutschen Sozialdemokratie, die sie bei der Wahl 1972 knapp an die absolute Mehrheit der Mandate brachte, gab es im Spitzengefüge weniger Solidarität als dies den Menschen in Betrieben und Schulen klar war. Der 91-jährige damalige Kanzlerberater Egon Bahr berichtet heute offen darüber.
„Wehner verfolgte seine eigene Ostpolitik“
In seinem Buch „Das musst du erzählen“ und einem Interview mit dem „Zeit“-Magazin nennt er den SPD-Fraktionschef Herbert Wehner einen „Verräter“. Gemeinsam mit SED-Chef Erich Honecker habe der Alt-Kommunist seine eigene Ostpolitik verfolgt, ohne die Einheit als Ziel: „Das Ende der Teilung war nicht vorgesehen.“ Und Brandt, der 1974 über den DDR-Spion Guillaume stürzte, hätte ohne Wehner im Nacken viel länger Kanzler bleiben können, weiß Bahr. „Davon bin ich überzeugt.“
Wie zerrissen müssen Regierung, Parlament und Partei gewesen sein — zwischen dem respektierten Asketen Wehner, der als Exilant den Krieg im berüchtigten Moskauer KGB-Hotel Lux verbracht hatte, und dem geliebten, jovialen wie schwermütigen Brandt, der Hitlers Diktatur in Skandinavien überlebte? Immer wieder entzündet sich der Konflikt an solchen Fragen: Was wollte Wehner? Wer war er wirklich? Auch: Hatte der Osten mit ihm einen Mann – hochrangiger als Guillaume – im Machtzentrum am Rhein platziert?
Loyalität zu Erich Honecker statt zu Brand
Einen „Einflussagenten der Sowjets“ hat der CDU-Politiker Werner Marx Wehner genannt. Wehners Loyalität Honecker gegenüber sei größer gewesen als die gegenüber den Kanzlern Brandt und Schmidt, schrieb der frühere DDR-Spionagechef Markus Wolf. Brandt-Berater Klaus Harpprecht verweist gerne auf die Moskauer „KP-Schule“, die der Fraktionsvorsitzende durchlaufen habe.
Vorwürfe stehen im Raum, festgemacht an vermeintlichen Ereignissen: Dass Wehner Verträge sabotiert habe und – vor allem bei der umstrittenen Reise zu Honecker im Mai 1973 – einen „persönlichen Grundlagenvertrag“ mit der DDR aushandeln wollte. Dass er den Kanzler über Ostgespräche im Unklaren gelassen, seinen Sturz in Moskau vorbereitet, dort später vor einem Angriffskrieg der Nato gewarnt und die militärische Niederschlagung des Solidarność-Aufstandes in Polen empfohlen habe.
Wehner hatte eigene Drähte in den Kreml
Wehner und Honecker kannten sich sehr gut – noch aus gemeinsamen Kampftagen. Sie waren befreundet. Wehner hatte persönliche Drähte in den Kreml. Aber Bahr selbst hält wenig von Horror-Szenarien.
„Hat Wehner im Auftrag Moskaus gehandelt?, fragte die „Zeit“. „Nein. Nein. Wehner machte Politik nach seinen eigenen Vorstellungen“, hat Bahr geantwortet – und an anderer Stelle den Verratsvorwurf präzisiert: Verrat habe Wehner nicht am Land, sondern an Willy Brandt geübt.
Wo enden Legenden, wo beginnt die Wahrheit? Brandt und Wehner sind lange tot. Schlüsselgespräche der beiden wie am Vorabend des Kanzlerrücktritts in Bad Münstereifel wurden ohne Zeugen geführt. Archivmaterial ist unvollständig oder wird verschieden interpretiert. Die Witwen Greta Wehner und Brigitte Seebacher haben ihre eigenen Deutungen. Mit all dem muss die SPD leben.
„Der Herr badet gerne lau“, sagte Wehner über Brandt
Noch spricht viel dafür, dass zwischen beiden tiefgreifende Unterschiede in der Bewertung einzelner Schritte der Ostpolitik – wie dem Freikauf von Häftlingen – bestanden, das Zerwürfnis selbst aber im Kern persönlicher Natur war. „Der Herr badet gerne lau“, hat Wehner deutschen Journalisten über Brandt in den Block diktiert.
Bahr bedauert es heute, dass er einen Rauswurf Wehners durch Brandt danach verhindert habe.