Veröffentlicht inPanorama

Beleidigt, geschmäht, bedroht

Beleidigt, geschmäht, bedroht

33336779--543x199.jpg
Foto: WAZ FotoPool

Herten. 

. Irgendwann hat sie es selbst geglaubt. Geglaubt, dass sie das Ekligste sei, was in der Schule herumläuft. An­dert­halb Jahre hat sie all die Schmähungen, Beleidigungen und Bedrohungen ertragen, anderthalb Jahre kam sie heulend nach Hause, erzählt ihre Mutter. Dann hat Sylvia Ha­macher aufgegeben, das Gymnasium in Recklinghausen verlassen. „Ich wusste nicht mehr, wer ich war, ich hab’ niemandem mehr vertraut”, sagt sie. Heute ist sie 18, besucht die 12. Klasse eines Gymnasiums in Haltern. Es geht ihr gut, sie lächelt, sie kann über das Erlebte reden, weil sie es mit Psychologen und einer Mobbingexpertin aufgearbeitet hat. Aus ihren Tagebüchern hat sie ein Buch gemacht und Freitagabend in Essen vorgestellt: „Tatort Schule”.

Sylvia Hamacher sitzt auf dem Rand des cognacfarbenen Ledersofas im Wohnzimmer ihrer Eltern. Den Hamachers gehört ein Mehrfamilienhaus in Herten. Gepflegt, mit Garten, gehobene Wohnlage. Sylvia ist eine auffallend hübsche, junge Frau. Sie ist wortgewandt, und wenn sie sagt, sie könne sich vorstellen, nach dem Studium in die Politik zu gehen, klingt das nicht einmal nach einer postpubertären Laune. Dass sie die Stufenbeste war, glaubt man ihr, dass sie auch ganz gern im Mittelpunkt steht, könnte man vermuten, wenn man ihr zwei Stunden gegenübersitzt.

Sie will keine Rache an der Schule nehmen, beteuert sie. Obwohl sie sich von den meisten Lehrern im Stich gelassen fühlte. „Ich will auf das Problem aufmerksam ma­chen, denn ich glaube, dass es fast an jeder Schule Mobbing gibt.” Sie sei davon depressiv geworden, andere würden aggressiv. Das werde oft erst nach einem Amoklauf thematisiert.

Eine Studie im Auftrag des Kinderkanals von ARD und ZDF weist immerhin aus, dass in Deutschland jeder vierte Schüler während seiner Schullaufbahn zum Mobbingopfer wird, fünf bis zehn Prozent werden sogar regelmäßig terrorisiert. Und: Rund ein Drittel aller Schüler wird demnach zum Täter.

„Das war ein Schlag für mich“

Das Warum hat Sylvia Hamacher bis heute nicht er­gründet. „Das war das Schlimmste für mich”, erzählt sie. Auslöser sei wohl die Party zu ihrem 14. Geburtstag gewesen, vermutet sie. Sie habe nicht alle 14 Mädchen der Klasse zu sich eingeladen, die sich als Clique verstanden hätten. Wenig später habe man sie draufgesetzt: „Ich hab’ zu Halloween eingeladen, alle haben zugesagt, und dann ist keiner gekommen.” Ausgerechnet das Mädchen, das sie für ihre beste Freundin hielt, lud am selben Abend ebenfalls ein.

„Das war ein Schlag für mich”, erinnert sich Sylvia. Aber erst der Anfang. Man habe sie stehenlassen am nächsten Tag. Auf dem Schulhof, überall. „Ich war wie Luft, plötzlich hat keiner mehr mit mir geredet.” Eine Woche sei das so gegangen, „und ich hab’ geglaubt, das wird schon wieder.” Wurde es nicht. Im Gegenteil. „Es wurde ihnen wohl langweilig, mich nur zu ignorieren.” Die Mitschüler hätten begonnen, sie zu beleidigen. Mit „Geh’ weg, Du stinkst” sei eine Eskalation von Hänseleien in Gang gesetzt worden, „Ich bin jeden Tag angepöbelt worden, sie haben mich geschubst, ich hab’ Panik gekriegt.“ „Wir wollen, dass du stirbst“, soll ein Mädchen zu ihr gesagt haben.

„Jedes Problem hat zwei Seiten“

Die Lehrer hätten das Thema unterschätzt, bei einem offiziellen Klassengespräch über den Umgang mit ihr, warfen Mitschüler ihr vor, sie mache „aus einer Mücke einen Elefanten“. Die Eltern der An­deren hätten von An­fang an ausgeschlossen, dass sie die Wahrheit sage. Die Schule wechseln wollte Sylvia zu­­nächst nicht. Erst als sie nach einem schweren Tritt im Sportunterricht für drei Tage ins Krankenhaus musste, ha­be sie nicht mehr gewollt. „Ich hatte Angst.“ Das war 2007.

Sie habe E-Mails von Mitschülern bekommen. „Ich würde helfen, aber dann wär’ ich vielleicht derjenige, den es erwischt“, habe einer geschrieben. „Weggucken ist mitmachen“, sagt sie heute dazu.

Und die Schule? Der Rektor reagiert diplomatisch: „Je­des Problem hat zwei Seiten. Im Interesse von und aus Fürsorge für Sylvia werde ich mich zu dem Fall nicht äußern.“