Winni Biermann fährt ‘n 40-Tonner-Diesel. Und singt dabei. Bisher liebte ihn nur das Münsterland dafür. Jetzt soll der Rest der Republik folgen.
Bocholt.
Winni Biermann erinnert sich noch ganz gut an den Moment, als der ganze Wirbel seine gelassene, seine münsterländische Person erfasste; das war an einem Freitag im August 2014. „Ich steh’ in Duisburg im Hafen, da klingelt mein Telefon“, sagt der Lastwagenfahrer. „Meine Frau ist dran und sagt: Hier rufen die Fernsehanstalten an. Was hast du getan?“
Im engeren Sinn hatte Biermann (47) gar nichts getan. Nur gewusst, dass der Internetsender „Bocholt TV“ ein kurzes Filmchen hatte online stellen wollen, das ihn dabei zeigt, wie er für gewöhnlich seine Morgen verbringt: Biermann, wie er in den Lastwagen steigt, den Motor startet, vom Hof der Spedition rollt und einen Radiosender namens WDR 4 einstellt. Truckers Alltag – bis er den Mund aufmacht und lossingt am Steuer mit der Stimme eines Tenors: „Ob blond, ob braun.“ So geht es über die Landstraße.
Der Rest ist Rummel.
Schön singen können viele. Aber ein mittelalter Lasterfahrer aus dem Münsterland mit gedrungener Figur?
Seine Interessantheit ist 16,50 Meter lang.
„Hier ist Sony Music“
Erst reagiert das Netz auf den singenden Trucker, dann das Fernsehen, dann eine Plattenfirma („Ich bin grad auf der A 3 bei Oberhausen, da klingelt mein Telefon. Jemand sagt: Hier ist Sony Music . . . Am nächsten Tag haben sie mir einen Plattenvertrag unter die Nase gehalten“). Am Freitag erschin Biermanns erstes Album mit dem anspielungssicheren Titel „Ein Lied fährt um die Welt.“ Und am Samstag ist er erstmals zu Gast in einer Abendshow bei Florian Silbereisen: „Die Besten im Frühling“ (Sa., 20.15 Uhr). Mit? „Ob blond, ob braun.“ Und? „Ein Lied geht um die Welt.“
Und Montag fährt er wieder. 6 Uhr morgens, wie so oft.
Das Bocholter Gewerbegebiet, Werkstraße 32, Spedition Fendrich (!). BOR-F 7016 ist jetzt zum Einsteigen bereit. Bis zu acht Touren fährt Deutschlands bekanntester Trucker täglich mit dem blauen 40-Tonner, Sand, Schotter und Bauschutt bis ins Ruhrgebiet hinunter, bis ins Sauer- und ins Siegerland. Und Biermann singt am Steuer, zum Halbplayback vom Stick. „Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde“, „Dein ist mein ganzes Herz“.
Die Tante war Sopran, der Onkel Tenor
Im Elternhaus, erfährt man, lief Rudolf Schock rauf und runter. Damit man mal etwas anderes hört, auch René Kollo und Fritz Wunderlich. Operetten, deutsche Schlager der 20er- und 30er-Jahre. „Meine Tante war ein Sopran, mein Onkel ein Tenor. Das liegt bei uns einfach drin.“ Und singt.
Schwer vorstellbar, dass Biermann vor zehn Jahren nicht singt, sondern vor allem Fußball spielt im Mittelfeld der Alten Herren vom DJK TUS Stenern. Dann bekommt er Knie und darf nicht mehr. Was tun? Ein Bekannter nimmt ihn mit zum Männergesangverein: „Ich war sofort gefesselt.“
Der Bocholter Chor fürchtet um seinen Tenor
Seine Stimme fällt auf im Verein, er nimmt Einzelunterricht und beginnt mit Soloauftritten. Mit dem Chor, auf Hochzeiten, zum Stadtfest. Damit wird er bis zum Sommer 2014 eine lokale Größe in Bocholt. „Ich hab immer gesagt, wir machen das unter ,Bocholter Tenor’, ich bin ja kein Profi.“ Dann das Filmchen. 3 Minuten 48 Sekunden krempeln sein Leben um. „Dass sowas auf einmal passiert mit 47.“
Heute Abend ist er schon in Magdeburg, um den Fernsehauftritt vorzubereiten. Da muss sein Chor, der „Quartett-Verein Bocholt“, abends im Kolpinghaus mal ohne ihn proben. Der Verein fürchtet eh, Biermann zu verlieren. Sein jüngstes und bekanntestes Mitglied, seinen begabtesten Tenor.
Da wir gerade bei Veränderungen sind, Herr Biermann: Nach Album, Fernsehauftritt, Illustriertengeschichten – was dann? Nur noch singen? Eine Show-Karriere? „Wer weiß, was kommt . . . Wenn man davon leben könnte“, sagt Biermann. Und: „Ich weiß, ich kann mit Fahren meinen Lebensunterhalt verdienen.“ Aber eigentlich stellt sich die Frage auch gar nicht. Denn er weiß: Winni, den singenden Trucker, den gibt es nur mit Truck. Oder gar nicht.
Seine Echtheit wiegt 40 Tonnen.