Nach dem Terror am 11. September 2001 wirkte Fußball-Unterhaltung deplatziert. Das fand damals auch der frühere Schalker Mittelfeldstar Andreas Möller. Doch zehn Jahre später hat er seine Meinung geändert – und erklärt, warum.
Gelsenkirchen.
Auf ihrem Weg zur modernen Arena zuckeln die Straßenbahnen der Linie 302 an Kultstätten des Gelsenkirchener Ortsteils Schalke vorbei. Am berühmten Schalker Markt, am Lottoladen, der einst Ernst Kuzorra und später Stan Libuda gehörte, am Vereinslokal Bosch, an der legendären Glückauf-Kampfbahn. Das erhöht die Spannung und die Stimmung, an Spieltagen müssen die vollgestopften Schienenfahrzeuge einiges aushalten. An diesem Abend vor zehn Jahren aber fiel es extrem unangenehm auf, dass ein paar blau-weiße Kuttenträger eine der Bahnen wie gewöhnlich als Bühne benutzten. „Wer nicht hüpft, der ist Borusse“, brüllten sie. Viele andere ignorierten die Animation. Auf einer Beerdigung sind Clowns unerwünscht.
Es war alles anders als sonst. Es war der 11. September 2001, der Tag des Terrors in den USA. Großflugzeuge krachten in Wolkenkratzer, Symbole amerikanischer Macht stürzten ein, Tausende Menschen verloren ihr Leben, die Welt erstarrte in Angst.
Und auf Schalke wurde Fußball gespielt.
Andreas Möller war einer von denen, die professionell funktionieren sollten. „Woanders sterben Menschen auf grausame Weise, und von uns erwartet man, dass wir die Zuschauer unterhalten“, klagte der Schalker Mittelfeldstar. Die Spieler fühlten sich wie Marionetten an den Fäden der Funktionäre, die Europäische Fußball-Union weigerte sich, die Produktion ihrer gigantischen Geldmaschine Champions League durch eine Absage zu stoppen. Und so geriet das zuvor euphorisch erwartete Debüt des FC Schalke 04 in der Königsklasse des Fußballs gegen Panathinaikos Athen zu einer absurden Veranstaltung.
„Eines der seltsamsten Spiele meiner Karriere“
„Das war eines der seltsamsten Spiele meiner Karriere“, sagt Andreas Möller heute. „Es sollte ein Fest werden, stattdessen waren alle total verunsichert. Auf den Rängen ging es viel leiser zu als sonst. Und wir Spieler haben es auch nicht geschafft, diese Bilder aus dem Kopf zu bekommen.“
Diese Bilder. Gibt es eigentlich Menschen, die nicht mehr wissen, wo sie an jenem Dienstag waren, als die Anschläge ihre Schockwirkung verbreiteten, als die unmittelbaren Auswirkungen live mitzuverfolgen waren? Die Schalker Fußballer saßen am Nachmittag im Teamhotel zusammen, natürlich liefen die Fernseher, ständig klingelten Telefone, an Spielvorbereitung war nicht zu denken. Verängstigt diskutierten sie sogar darüber, ob auch ein Prachtstadion in Europa Ziel eines solchen Attentates werden könnte.
In der Arena verkündete der Stadionsprecher drastisch, er fühle sich „beschissen“. Aufs folkloristische Vorprogramm wurde verzichtet, Schalke verlor dann 0:2 gegen Athen. Egal. Die Grenze für Gründe, Traurigkeit zu empfinden, war weit verschoben worden. Das hier war nur Fußball.
Andreas Möller hatte sich am Morgen danach noch nicht beruhigt. Geplant war ein Interview zum bevorstehenden Revierderby gegen Borussia Dortmund, bei dem ihm, dem ehemaligen BVB-Profi, eine Hauptrolle zugedacht war. Er kam nur, um eine Absage loszuwerden: „Ich habe im Moment keine Lust, über Zweikämpfe zu reden.“
„Die Menschen brauchten Ablenkung“
Wer hatte das schon? Aber auf ein Gespräch darüber, wie sich ein Fußballprofi in einer solchen Extremsituation auf seine öffentlich beobachtete Arbeit konzentrieren können sollte, ließ sich der damals 34-Jährige spontan ein. „Absolut zweitrangig“ war Fußball für ihn plötzlich geworden, „etwas Zeit zur Besinnung“ forderte er. Er fand es pietätlos, dass auch der folgende Bundesligaspieltag nicht abgesagt wurde: „Man kann doch nicht einfach darüber hinwegsehen, was in der Welt passiert“, betonte er empört.
Zehn Jahre danach hat er dazu eine andere Meinung. „Die Menschen haben damals durchaus erkannt, dass Fußballer keine Maschinen sind“, sagt er. „Aber ich glaube, sie brauchten etwas Ablenkung. Heute denke ich, es war okay, dass samstags wieder gespielt wurde. Man wollte ja auch dem Terror nicht nachgeben.“
Vor dem Derby gab es eine seltene Demonstration revierinternen Zusammenhalts. Bei der Gedenkminute fassten sich die Schalker und Dortmunder Spieler im Mittelkreis an den Händen, knapp 62 000 Menschen hielten inne. Totale Stille, an einem solchen Ort nie zuvor erlebt. Genau ein Vorwitziger konnte es dann doch nicht lassen, er rief: „Schaaalke!“ Ein anderer wies ihn zurecht: „Schnauze!“ Es klingelte ein Handy, Tausende konnten auch das hören. Die Masse der Fußballfans benahm sich beeindruckend.
Zeichen der Solidarität
Andreas Möller meint heute, diese Aktion sei „total hilfreich und sinnvoll“ gewesen. „Das war ein Zeichen der Solidarität. Ich fand es sehr gut, dass hier rivalisierende Vereine gemeinsam Mitgefühl zeigten.“ Jens Lehmann, damals Dortmunder und vorher Schalker Torwart, ein Seitenwechsler also wie Andreas Möller, hatte sich anfangs noch geweigert, dem Kreis beizutreten. „Das ist doch Heuchelei“, erklärte er. „Erst schön Händchenhalten, und zwei Minuten später soll man demselben Spieler einen auf die Socken hauen. Solidarität wäre gewesen, wenn wir nicht angetreten wären.“
Andreas Möller widerspricht auch mit zeitlichem Abstand: „Wir Spieler hatten doch auch eine Vorbildfunktion!“ Ausgerechnet er, der sich damals auf dem Platz furchtbar unwohl fühlte, entschied das Derby. Auf dem Rasen ließ er kurz Freude über sein Tor des Tages erkennen. Dass ihm dennoch die ganze Veranstaltung nicht passte, unterstrich er nach dem Spiel: Er gab kein einziges Interview. Für seine Erklärung, die er nachreichte, hatte jeder Verständnis: „Es war nicht der Tag, um sich feiern zu lassen.“