Kühe, Glockengebimmel, weiter Blick – ohne Wiesen, Weiden und Almen wären die bayerischen Alpen für den Tourismus weit weniger attraktiv. Doch die Bäume sind auf dem Vormarsch, die Berge werden immer waldiger.
München.
Bayerns Berge verwalden: In den vergangenen fast 100 Jahren sind ungeachtet der fortschreitenden Zersiedlung im Flachland gut 3000 Quadratkilometer neue Wälder auf ehemaligen Wiesen, Weiden und Äckern gewachsen. Der Vergleich mit historischen Flächennutzungsdaten zeigt, dass sich das Antlitz der Landschaft gewandelt hat: Demnach waren Ende 2019 bayernweit knapp 25 000 Quadratkilometer bewaldet, wie aus den Daten des Statistischen Landesamts hervorgeht.
Unter- und Oberfranken weniger bewaldet als nach dem Ersten Weltkrieg
In der Forsterhebung des Jahres 1925 ist die Waldfläche für die sieben heute noch zu Bayern zählenden Regierungsbezirke dagegen mit vergleichsweise spärlichen 21 600 Quadratkilometern angegeben – und der Wald ist seither in Teilen südwärts gewandert. Unter- und Oberfranken sind heute weniger bewaldet als nach dem Ersten Weltkrieg. Beim Vergleich der Agrarstatistiken ist wegen geänderter Berechnungsmethoden zwar etwas Vorsicht geboten, doch Mondzahlen sind die alten Daten nicht.
„In manchen Regionen Bayerns ist die Waldflächenbilanz sogar negativ, vor allem in Bereichen mit besonders fruchtbaren Böden und höherem Bedarf für Gewerbe, Infrastruktur und Siedlung“, sagt Stefan Tretter bei der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft.
Gewachsen sind die neuen Wälder vor allem in Oberbayern, aber auch in Schwaben und im einst sehr waldarmen Allgäu ist viel hinzugekommen. Langfristig ist die Entwicklung in den Alpen vom Allgäu bis Berchtesgaden auch zu Lasten der bei Touristen so beliebten Almen gegangen. „Natürlich wird die Almwirtschaft durch die Ausbreitung des Waldes stark beeinträchtigt“, sagt Hans Stöckl, der Geschäftsführer des Almwirtschaftlichen Vereins Oberbayern. „Wenn nichts gemacht wird, werden die meisten Weideflächen automatisch zu Wald.“
Verfinsterung der Landschaft
In Bayerns Bergen ist das Wachstum des Waldes bislang kein großes Thema, andernorts durchaus: „Für die Schweiz ist das ein wirkliches Problem“, sagt der Rosenheimer Biologe Alfred Ringler, Autor des 1448-seitigen Standardwerks „Almen und Alpen“. „Man spricht von der Verfinsterung der Landschaft.“
Deutlich sichtbar ist das Wachstum des Waldes beim Vergleich heutiger Aufnahmen mit historischen Fotos. So war der 1737 Meter hohe Grünten im Oberallgäu – als „Wächter des Allgäus“ ein markantes Wahrzeichen – vor 100 Jahren sehr viel spärlicher bewaldet als heute. Ein weiteres Beispiel: das Brauneck bei Lenggries, damals wie heute einer der beliebtesten oberbayerischen Skiberge. In alten Bänden des Rother-Bergverlags in München ist zu sehen, dass die Gipfelregion des 1555m hohen Berges und der zur Benediktenwand weiterführende Kamm ehedem weitgehend baumfrei waren.
Ein großes Almensterben hat es in den vergangenen dreißig Jahren nicht mehr gegeben. „Die Zahl der Alpen ist in den vergangenen Jahren sogar leicht gestiegen“, sagt Michael Honisch vom Landwirtschaftsamt in Kempten – im Allgäu heißen die Almen Alpen, ebenso wie die Berge als solche.
„Die gesamte Lichtweidefläche im Allgäu ist auch nicht wesentlich zurückgegangen“, sagt Honisch. Die Älpler sind sehr bemüht, die Weideflächen nicht zuwachsen zu lassen, schließlich will man sich nichts nachsagen lassen oder Fördergelder riskieren.“
Wenn der Mensch geht, kommt der Wald
Neuer Wald wächst nach Honischs Worten in der jüngeren Vergangenheit hauptsächlich unterhalb der Alm-/Alpregion: „Vor allem sind schwer zugängliche oder schwer zu bewirtschaftende Wiesen und Weiden in den Talrandbereichen betroffen.“ Eine Folge des Waldwachstums ist, dass der Artenreichtum abnimmt, weil mit Wiesen, Weiden und Almen verbundene Lebensräume seltener werden oder gebietsweise ganz verschwinden. „Junge Wälder sind für seltene Vögel und seltene Pflanzen völlig uninteressant“, sagt Biologe Ringler.
Das Vordringen der Wälder hat mehrere Ursachen: natürliche, ökonomische und forstliche. Wald ist die natürliche Vegetation in Mitteleuropa: Sobald menschliche Aktivität nachlässt, breitet sich Wald aus.
Heute werden Almen und Alpen von wesentlich weniger Menchen bewirtschaftet als in früheren Jahrhunderten. „Die Landwirtschaft in den Bergregionen war nur solange konkurrenzfähig, solange sie in erster Linie der Eigenversorgung gedient hat“, sagt Geschäftsführer Stöckl beim Almwirtschaftlichen Verein Oberbayern. „Seither ging es mit der Landwirtschaft in den Bergregionen abwärts.“
„Die Behirtung von Almen und Alpen wird immer schwieriger“, sagt ein Sprecher des Bayerischen Bauernverbands in München. Das liegt keineswegs nur am Wald, der Bauernverband nennt auch die behördliche Vorschriften, die Rückkehr des Wolfes und Konflikte mit Sportlern und Erholungssuchenden.
Randbereiche verbuschen
Eine Folge der ökonomischen Entwicklung ist, dass weit weniger Hirten im Gebirge sind als ehedem und die Rinder kaum noch in die Randbereiche der Almen getrieben werden, wie der Biologe Ringler meint. „Die Randbereiche verbuschen und wachsen zu.“
Einst waren viele Bergwälder auch sehr viel lichter als heute, da die Bauern ihre Tiere zum Weiden zwischen die Bäume trieben, was heute kaum noch praktiziert wird. Und das führt zum dritten Grund, warum die Waldfläche so stark zugenommen hat.
Die Bergwälder sind zu einem beträchtlichen Teil im Besitz des Freistaats. Der Schutzwald ist für die bayerische Forstverwaltung ein hohes Gut, denn der Wald beschirmt die darunter liegenden Siedlungen und Verkehrswege vor Erosion, Lawinen, Muren, Steinschlag und Hochwasser. Forstleute hören daher den Begriff der Verwaldung gar nicht gern. (dpa)