Seit dem 3. Dezember 1989 stiefelt ein Mann jeden Tag auf den höchsten Berg im Harz
Ist der Mann dem Gipfel näher oder dem Wahnsinn? Noch 200 Meter, dann hat es Benno Schmidt (76) wieder geschafft. Etwas, das einfach unglaublich klingt, wenn es wie selbstverständlich über seine Lippen kommt: „Heute bin ich zum 5604. Mal auf dem Brocken”, erzählt er. Zweifeln ist zwecklos, der Mann kann jeden Aufstieg mit einem Stempel in seinem Pass belegen. Seit die innerdeutsche Grenze am 3. Dezember 1989 fiel, stiefelt Benno täglich auf den Berg. Von Wernigerode aus steigt der Wanderführer die 900 Höhenmeter hinauf. Hier oben in 1142 Metern kennt ihn jeder als „Brocken-Benno”. Für seine „Fans” hat er sogar eine eigene Webseite eingerichtet. Darauf ist zu lesen: „In der Regel treffen sie mich zwischen elf und zwölf Uhr auf dem Brocken an und können auf Wunsch Autogrammkarten erhalten.”
Heute werden alle „Brocken-Bergsteiger” mit Kaiserwetter belohnt. Selten hatte Benno in den letzten 20 Jahren so eine Fernsicht, mehr als 100 Kilometer bis zum Thüringer Wald. Aber er geht bei jedem Wetter. Sogar als der Orkan Kyrill vor zwei Jahren über die Bergkuppe fegte, stemmte sich Benno gegen den Sturm und stieg hinauf. Sogar Reinhold Messner hat er hier oben schon getroffen. Quasi ein Kollege, für den der Harz-Berg allenfalls ein alpiner Aperitif sein dürfte.
Dabei ist der Brocken klimatisch vergleichbar mit Zugspitze und Watzmann: Gerade mal 2,9 Grad Celsius beträgt die Jahresdurchschnittstemperatur – es ist kühl oberhalb der Baumgrenze. Für die ist nicht etwa der DDR-Rodungswahn verantwortlich, sondern die Eiszeit. Und die scheint an diesem Tag bei arktischen Temperaturen von minus 14 Grad nicht weit. Vielleicht schreckt das auch die Prominenz ab; Benno hat heute noch keine Wander-VIPs gesehen. Dafür ist er auf halber Höhe an drei Schulklassen vorbeigezogen: „Junge Leute, in dem Alter schon übergewichtig, klarer Fall von Bewegungsmangel!”
Die Mehrheit der zwei Millionen Brockenbesucher im Jahr nimmt den Bewegungsmangel bewusst in Kauf: Sie fährt mit der Harzer Schmalspurbahn hinauf zum Gipfel. In 90 Minuten. Viel länger braucht Benno auch nicht. Durchs Winter-Wunderland stampft die Dampflock von Wernigerode (234 Meter über NN) über Drei Annen Hohne (540 Meter) und Schierke (685 Meter) hinauf zum Brocken Bahnhof. „Schöner als im Engadin”, schwärmt eine Dame aus Hamm beim Blick auf die verschneiten Tannen, die der Zug auf der Strecke passiert.
Bereits 1899 fuhr die erste Lok auf den Brocken, drei Lokomotiven aus der Gründerzeit sind noch immer im Einsatz. Lokführer Ronny Schenkel lässt seinen Heizer Steinkohle feuern, nur so kann die Schmalspur-Lokomotive ihre 700 PS entfalten. Und die wird sie auch heute brauchen.
Zur Zeit der sowjetischen Besatzung wurde die Bahn stillgelegt, der Brocken zum Sperrgebiet erklärt. Er fungierte fortan als Horchposten der Stasi, die mit modernsten Funkssystemen vom Gipfel den Westen abhörte. DDR-Staatsoberhaupt Walter Ulbricht ließ um die Brocken-Kuppe eine über drei Meter hohe Mauer bauen, inklusive Stacheldraht. Berliner Logistik, eine leichte Übung. Seit Juli 1992 gibt es nun wieder einen fahrplanmäßigen Zugverkehr auf den Brocken, der heute zum Nationalpark Harz gehört. Das heißt: Skisport ist hier tabu. Wer das will, muss auf den Wurmberg in Braunlage ausweichen.
Gänzlich ohne Infrastruktur ist das Brocken-Plateau jedoch nicht: Am höchsten Punkt steht der 123 Meter hohe Sendemast, den vor allem der MDR nutzt – der Brocken gehört zu Sachsen-Anhalt. Neben dem Mast steht das Museum im Brockenhaus. Die Geschichte der Brocken-Hexen kann genauso erlebt werden wie die Zeit, als der Brocken DDR-Sperrgebiet war.
Beliebtester (weil einziger) Treffpunkt ist der Brockenwirt direkt am Brockenbahnhof. Der erste Brockenwirt bediente bereits im 18. Jahrhundert seine Gäste. Damals vor allem Torfarbeiter, heute Touristen. Die werden ab April mit dem „Mephisto-Express” hinauffahren, einem Sonderzug. Auf dem Plateau-Programm steht dann „Faust – die Rockoper auf dem Brocken!” Gespielt wird im Goethesaal des Brockenhotels. Die ersten Aufführungen sind schon ausverkauft – wann kann man schon mal auf dem Brocken rocken?
Goethe selbst war dreimal oben, erstmals am 10. Dezember 1777. Auch Goethes Nachfolgern hatte es der Berg angetan. „Viele Steine, müde Beine, Aussicht keine, Heinrich Heine”, soll der Dichter einen nebligen Tag beschrieben haben. Eher eine Anekdote. Als sicher gilt, dass Heine im alten Brockenhotel übernachtet hat.
In klimatisch so exponierter Lage steht natürlich auch eine Wetterwarte des deutschen Wetterdienstes. Die liefert entsprechend extreme Werte: An 306 Tagen des Jahres ist der Gipfel vernebelt, an 176 Tagen verschneit und an 100 Tagen vereist. Aber was sind das schon für Daten, solange es Brocken-Benno gibt. Morgen wird er wieder einen neuen Rekord aufstellen, denn dann ist er wieder auf dem Brocken: Zum 5605. Mal!