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Pioniere der Pädagogik – 40 Jahre Gesamtschule

Pioniere der Pädagogik – 40 Jahre Gesamtschule

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Foto: WAZ FotoPool

Dortmund. 

Mensch, ist das ein Bau! Wer immer den geplant haben mag – Spaß am Schnörkel hatte er nicht. Wie eine Trutzburg steht die Schule im Dortmunder Norden: eckig, groß und grau. Man sieht es nicht gleich, aber in diesem Beton steckt Geschichte. Hier begann vor 40 Jahren der „Versuch Gesamtschule”.

Jürgen Theis war dabei. Ulrich Schmidt und Ingo Moldenhauer auch. Ende der 60er wollten sie anders Schule machen, pädagogische Pioniere sein. Sie traten schnell auf Feindesland. „Widerstand gab es immer,” erinnern sich Theis und Moldenhauer. „Man warf uns Gleichmacherei vor, die sozialistische Einheitsschule.” Ulrich Schmidt klingen die Sprüche noch in den Ohren: „Bei euch können die Kinder doch machen, was sie wollen.” Das war alles Quatsch, beteuern die Gesamtschullehrer der ersten Stunde. Sie sind längst im Ruhestand, aber das Thema ihres Lebens lässt keine Ruhe zu. Um Chancengleichheit sei es ihnen gegangen. Und darum, dass Unterricht nicht festen Regeln folgen muss, sondern sich am besten spontan und frei entwickelt.

In Dortmund-Scharnhorst steht eine von sieben ehemaligen „Versuchsschulen”, die damals an den Start gingen. Münster bekam eine konfessionelle Gesamtschule. Die anderen stehen in Oberhausen, Gelsenkirchen, Fröndenberg, Kierspe und Kamen. Aus sieben wurden bis heute 221. Misst man sie an der Nachfrage, dann sind sie die großen Sieger in der Schullandschaft. Ihre Verwaltungen ertrinken geradezu in Anmeldungen. „15 000 Kinder werden jedes Jahr abgelehnt”, ärgert sich Dorothea Schäfer, Vize-Landesvorsitzende der Gewerkschaft GEW. Allein mit diesen Abgelehnten könnte man theoretisch 150 neue Schulen gründen.

73 Prozent der Abiturienten mit Migrationshintergrund

Dabei machen hier mitnichten mehr Kinder das Abitur als im „normalen” dreigliedrigen Schulsystem. Stolz sind die Scharnhorster auf etwas anderes: „73 Prozent unserer Abiturienten haben einen Migrationshintergrund. Die meisten hätten sonst nicht den Hauch einer Chance auf die Hochschulreife gehabt”, sagt Rektor Heinrich Jost. Für das Zentralabitur sind sie der Landesregierung übrigens fast dankbar. „Gesamtschüler liegen im Vergleich gerade 0,2 Punkte unter dem Landes-Notenschnitt. Jetzt kann endlich keiner mehr sagen, dass man bei uns so eine Art Aldi-Abitur bekommt”, meint Ingo Moldenhauer.

Da nickt Gerold Heyden. Er war ‘69 einer der ersten Gesamtschüler in NRW. Ein von der Realschule „gebranntes“ Arbeiterkind. „Die war autoritär, man musste sich immer anpassen. In der Gesamtschule habe ich zum ersten Mal Zuwendung von Lehrern erfahren”, sagt der 50-Jährige. Heute ist er selbst Lehrer in Scharnhorst. Seine Arbeit versteht er auch als kleines Dankeschön. „Für mich ist es ein Privileg, hier zu sein.”

Auf ein ähnlich herzliches Danke aus der Politik warten sie in den Gesamtschulen immer noch. Die SPD habe zu viele „Wackeljahre” hinter sich. Und Schwarz-Gelb? „Ach, die packen gern mal die Folterwerkzeuge aus, um Neugründungen zu verhindern”, grummelt Ulrich Schmidt. In dieser Woche erst stritt der Landtag über die Gründung einer Gesamtschule im bergischen Morsbach. Die Gemeinde zog dafür sogar vor Gericht. Doch Landesregierung und Regierungspräsident wollen partout nicht.

„Schule für alle“

Die Gesamtschule wollte und will eine „Schule für alle“ sein. Vielfalt ist ausdrücklich erwünscht. In einer Klasse sitzen Mädchen und Jungen mit sehr unterschiedlichen Leistungsmöglichkeiten.In den Klassen fünf und sechs gibt es gemeinsamen Unterricht im Klassenverband. Bis in die Klasse neun erfolgt der Übergang in der Regel ohne Versetzung. An einer Gesamtschule können alle Schulabschlüsse erworben werden.

Im Ruhrgebiet gibt es relativ viele Gesamtschulen, aber manche Kreise in NRW haben keine einzige, zum Beispiel Borken, Höxter, Olpe und Hochsauerland. Münster ist die einzige kreisfreie Stadt ohne (öffentliche) Gesamtschule.

Zu den Gegnern dieser Schulform gehört Ulrich Sprenger. Der pensionierte Gesamtschullehrer schart seit 16 Jahren unzufriedene Kollegen um sich. 70 Kritiker sitzen im „Arbeitskreis Schulformdebatte“ „Davon, dass stärkere und schwächere Schüler gemeinsam lernen, haben weder die einen noch die anderen Vorteile”, sagt Sprenger. Die guten Schüler würden durch die langsamer lernenden ausgebremst. und die langsameren Schüler litten unter psychischem Stress, weil sie damit fertigwerden müssen, dass andere schneller und erfolgreicher sind.

Die Pioniere von einst wollen von solchen Einwürfen nichts wissen. „Die Gesamtschule nimmt die Zukunkt schon vorweg”, behaupten sie. „Länger gemeinsam lernen, Ganztag, Behinderte und Nicht-Behinderrte zusammen – das ist Gesamtschule.” Heute, in Bochum, lassen sie deshalb die Korken knallen: Lehrer, Eltern, Schüler und Gewerkschafter. Sogar Düsseldorf schickt Glückwünsche. Die Ministerin lässt sie übermitteln, vom Staatssekretär.