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Abschied zu Lebzeiten – Oliver Sacks schreibt über Krebs

Abschied zu Lebzeiten – Oliver Sacks schreibt über Krebs

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Foto: imago
Der große Wissenschaftler und Humanist Oliver Sacks („Zeit des Erwachens“) ist an Krebs erkrankt. In der „New York Times“ schreibt er von Angst – und von seiner Dankbarkeit.

Washington. 

Er hat die Welt mit Überlebensgeschichten bereichert. Seine von Empathie getränkten Bücher haben Millionen Menschen, die durch schwere Krankheit aus dem Raster der Normalität gefallen sind, Mut gemacht. Eine katastrophale Diagnose wirft Oliver Sacks, Arzt, Psychiater, Hirnforscher, Entdecker, Autor und Menschenfreund mit großem Herzen, nun selbst aus der Bahn. Leberkrebs im Endstadium. Mit einem offenen Brief an die Welt hat der 81-jährige New Yorker am Donnerstag ein anrührendes Lebenszeichen gegeben.

„Ich verhehle nicht, dass ich mich fürchte“, schreibt der gebürtige Brite in seinem Leib-und-Magen-Blatt „New York Times“, „aber mein vorherrschendes Gefühl ist Dankbarkeit. Ich habe geliebt und wurde geliebt. Mir wurde viel gegeben. Und ich habe einiges erwidert. Ich habe gelesen, gedacht, geschrieben und bin gereist. Ich hatte einen Austausch mit der Welt, den besonderen Austausch zwischen Autoren und ihrem Publikum. Über allem aber steht: Ich war ein empfindendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem wunderbaren Planeten. Und das allein war ein unglaubliches Privileg und Abenteuer.“

Wie Oliver Sacks Erkenntnisgewinn und Mutmachen verbindet

Oliver Sacks wurde berühmt durch die immer witzig und selbstironisch geschriebenen neurologischen Fallgeschichten seiner Patienten, die er in Büchern wie „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ (der Komponist Michael Nyman machte später eine Oper daraus) und „Zeit des Erwachens“ festhielt.

Letzteres ein Meisterwerk über die „Europäische Schlafkrankheit“, das mit Robin Williams in der Hauptrolle und Robert de Niro verfilmt und von Tobias Picker in einem Ballett verarbeitet wurde. Durch Sacks haben viele Menschen gelernt, wie eng das Normale und das Unnormale zusammenliegen. „Eine klitzekleine Hirnverletzung, ein kleiner Tumult in der cerebralen Chemie – und wir geraten in eine andere Welt.“

Noch vor einem Monat fühlte sich Oliver Sacks pudelwohl. Dann kam der Befund: Ein Drittel der Leber von Metastasen zerfressen. Spätausläufer einer Erkrankung, die fast zehn Jahren zurückliegt. Damals wurde hinter seinem rechten Auge ein bösartiger Tumor entdeckt. Sacks erblindete nach mehreren komplizierten Operationen. Und schrieb ein Buch darüber, wie es ist, die Fähigkeit des räumlichen Sehens einzubüßen und in seinem geliebten Village im Süden von Manhattan mit dem Stock an der Bordsteinkante zu straucheln.

„Das innere Auge“, erhellend und amüsant zugleich, wurde wie so viele Schriften ein Erfolg. Weil Sacks Erkenntnisgewinn und Mutmachen verbindet. Ohne Oberlehrhaftigkeit. Auch für „Einaugen“ (so sein eigenes Wort) hält der Alltag Wunder bereit. Zuletzt widmet er sich ausgiebig der Welt als Wille und Vorstellung. Wer „Drachen, Doppelgänger und Dämonen“ gelesen hat, weiß, das Halluzinationen nur allzu menschlich sind.

Zu „schusselig“ für die Forschung

Geboren wurde Oliver Sacks im Jahr der Machtergreifung Hitlers als Sohn eines jüdischen Ärzte-Ehepaares in London. Drei ältere Brüder härteten ihn ab fürs Leben. Sacks studierte an verschiedenen Universitäten, machte Abschlüsse in Physiologie, Biologie und Medizin. Für die Forschung war er nach eigenen Angaben zu „schusselig“.

Also wandte er er sich am Middlesex Krankenhaus in London der Neurologie zu. 1960, nach einem Ferienaufenthalt in Kanada, kam Sacks in die USA. Und blieb. Über Kalifornien geriet er nach New York und ließ sich in der Bronx mit einer neurologischen Praxis nieder. Mit Lehraufträgen an der Columbia Universität und der NYU School of Medicine machte sich der stets verbindlich und den Menschen zugewandt auftretende Single, Sacks war nie fest liiert, einen Namen. 1973 mit „Zeit des Erwachsens“ begann seine Karriere als Autor. Wie lange er sie noch fortsetzen kann, weiß niemand. Oliver Sacks will sein Leben darum entschlacken. „Es bleibt keine Zeit mehr für irgend etwas Unwichtiges.“

Die Abend-Nachrichten im Fernsehen wird er ebenso streichen wie das Verfolgen der politischen Debatten in Washington oder den Kampf um den Klimawandel. Nicht weil es ihn nicht mehr interessierte. Im Gegenteil. Aber diese Dinge seien nun Sache nachkommender Generationen, schreibt der Patient Sacks. Und rät sich den Blick auf das Wesentliche zu lenken, die verbleibende Zeit (Wochen? Monate?) so „intensiv und bereichernd wie möglich“ zu verbringen.

Sacks wäre nichts Sacks, würde er selbst in schwärzester Stunde keine Hoffnung und Kopfhoch-Atmosphäre verbreiten. „Ich bin sehr lebendig. Und ich hoffe, dass ich in der Zeit, die mir bleibt, meine Freundschaften noch vertiefen und mich von denen verabschieden kann, die ich liebe.“ Im Frühjahr kommt seine Autobiographie auf den Markt. Was mit den anderen Büchern wird, an denen der leidenschaftliche Schwimmer und Botanik-Kenner traditionell gleichzeitig arbeitet, ist ungewiss. Was bleibt, ist ein erhabenes Vermächtnis. „Ich habe zwar keine Botschaft, aber ich habe das Gefühl, es ist gut zu staunen.“