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Adolf Herbst ist der letzte Lengede-Überlebende

Adolf Herbst ist der letzte Lengede-Überlebende

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Grubenunglück von Lengede 1963 - Überlebender Foto: dpa
50 Jahre ist es an diesem Donnerstag her, dass in Lengede 29 Männer bei einem Grubenunglück starben. Elf wurden unter Tage eigeschlossen und erst zwei Wochen später gerettet. Adolf Herbst ist einer von ihnen: der letzte Überlebende von Lengede. Der heute 70-Jährige war nur zufällig am Unglücksort.

Hannover. 

Fast unmerklich schüttelt er den Kopf, während er im Wintergarten seines Hauses sitzt und sich erinnert an jenen 24. Oktober 1963. Nein, sagt Adolf Herbst, er hätte gar nicht mehr unter der Erde sein sollen an diesem Abend. Da, wo es ihm „nie ganz geheuer war“. Zu Hause in Hannover wartet seine heutige Frau, damals noch Freundin, Dagmar. Am Wochenende wollte man Verlobung feiern. Aber die Pumpenkammer, die Adolf Herbst im Schacht Mathilde der Eisenerzgrube Lengede reparieren muss, ist noch nicht fertig. „Und noch mal wollte ich nicht in diese Grube“, sagt der heute 70-Jährige. Also hängt er noch eine Schicht dran. Doch dann kommt das Wasser.

Kurz vor dem Ende der Mittagschicht an diesem 24. Oktober 1963 stürzen 500 Millionen Liter Wasser und Schlamm aus dem darüber liegenden Klärteich 12 über einen Schrägstollen, überfluten die Grube bis zur 60-Meter-Sohle. 129 Männer kämpfen um ihr Leben. Kumpel eilen auf ihn zu, rufen „Hau ab“. Der junge Mann rennt hinter ihnen her. Niemand kennt den Starkstrommonteur, alle halten ihn für einen Kollegen. „Ich trug ja Bergmannskleidung.“

Ein „Alter Mann“ ist die letzte Chance für die Eingeschlossenen

Die Flüchtenden laufen über Förderbänder, hangeln sich an Lüftungsrohren entlang. Müssen zeitweise schwimmen, bis sie in eine Sackgasse geraten. Auf einem kleinen Hügel frisch geschossenen Eisenerzes müssen 21 Männer zusehen, wie das Wasser steigt. „Ich hab’ gedacht, das war’s.“

Da entdeckt ein Kumpel einen „Alten Mann“, einen „wilden Hohlraum“, längst ausgebeutet und sich selbst überlassen. Er liegt höher, aber er liegt abgelegen. Und es ist gefährlich, einen „Alten Mann“ zu betreten, der nach und nach in sich zusammenfällt. Doch für die Eingeschlossenen ist er die letzte Chance. „Da diskutiert man nicht.“ Schon in den ersten Stunden werden fünf Kumpel von herunterfallenden Steinen erschlagen. Für die anderen beginnt die längste Nacht ihres Lebens. Stickig ist die Luft, vollkommen die Dunkelheit. Zu essen gibt es nichts, zu trinken nur Sickerwasser. Zu hören sind nur das Stöhnen der Verletzten und die Gebete des Nebenmannes. „Doch so lange man atmet, lebt man noch.“

79 Knappen haben sich sofort retten können

Nur glaubt das über Tage niemand mehr. 79 Knappen haben sich unmittelbar nach dem Unglück retten können, sieben werden einen Tag später mit einem Floß geborgen, drei weitere nach acht Tagen aus einer Luftblase unterhalb des Wasserspiegels befreit. Für alle anderen läuten die Totenglocken.

Und dann geschieht, was das Unglück von Lengede zum Wunder werden lässt. Ein Hauer namens Hütter erinnert sich an den „Alten Mann“, überredet Hüttendirektor Rudolf Stein zu einer letzten Rettungsbohrung. Weil Eisenbahnschienen im Weg liegen, wird sie um ein paar Meter verschoben. Nur deshalb trifft der Bohrer 227 Stunden nach der Katastrophe die Höhle der Eingeschlossenen. Unten sind da noch elf, oben ist, wie Londons „Daily Mirror“ angesichts des öffentlichen Interesses schreibt, „die ganze Welt“. Gerettet sind die Kumpel noch nicht, jeden Augenblick kann der brüchige Hohlraum komplett einstürzen. „Aber jetzt wollten wir ein zweites Leben haben.“

„Helden sind die Menschen, die uns da raus geholt haben“

Sie bekommen es. Am 7. November werden Herbst und zehn weitere Überlebende mit einem im Ruhrgebiet entwickelten Rettungszylinder, der Dahlbusch-Bombe, nach oben gebracht. Die Presse nennt sie damals Helden. „Aber das waren wir nicht“, sagt Herbst bis heute. „Helden sind die Menschen, die uns da raus geholt haben.“

Herbst ist frei, aber die Grube lässt ihn nicht los. Der Kontakt zu anderen, die mit ihm eingeschlossen waren, bricht ab. Eine Therapie gab es nie. Jahrelang leidet er unter Schlafstörungen. „Nachts war ich wieder unten.“ Enge Räume mag er bis heute nicht, eingefahren ist er nie wieder.

Jedes Jahr nach Lengede zurückgekehrt

Nur nach Lengede, wo außer einer kargen Gedenkstätte nichts mehr an die Katastrophe erinnert, ist er jedes Jahr zurückgekehrt. Auch an diesem Donnerstag wird er kommen, wenn Reden gehalten werden und eine Bergmannskapelle spielt – wohl als letzter Überlebender der elf Eingeschlossenen. Obwohl er nicht verstehen kann, dass das Unglück juristisch nie aufgearbeitet wurde. Schnell waren sich Experten einig, dass der Klärteich 12 damals wohl falsch abgedichtet war, Warnsignale nicht beachtet wurden, die Katastrophe vermeidbar gewesen wäre. Zur Rechenschaft gezogen wurde niemand.

Auch reden kann Herbst mittlerweile über die Tage unter der Erde. „Mit der Zeit ist das besser geworden.“ Manches aber wird er nie erzählen. Er kann es einfach nicht. „In meinem Kopf“, sagt er, „ist so eine Art Blackbox.“ Die macht er nicht auf, denn: „An manche Dinge aus jenen Tagen will man sich einfach nicht mehr erinnern.“