Alle 17 Jahre herrscht an der Ostküste der USA Zikaden-Alarm. In diesem Frühling ist es wieder soweit. Billionen der kleinen Insekten schwirren umher und machen einen Höllenlärm. Bei Regenwetter fühlen sich die Zikaden besonders wohl und treiben ihr Liebesspiel. Zum Leidwesen der Anwohner.
Washington.
Sie sind dick und dumm und sie sind viele. Sie werden den Himmel verdunkeln, in Bäumen hocken und auf Bürgersteigen wie lebendiger Teer herumkrabbeln. Sie werden den Menschen um den Kopf herumschwirren und dabei mit ihren Liebesliedern einen Höllenlärm veranstalten, der selbst Rasenmäher übertönt.
Sie – das sind Billionen Mitglieder der Volksgemeinschaft Brood II der Gattung „Magicicada septemdecem“, die in den nächsten Wochen Hunderte Meilen ober- und unterhalb des Großraums Washington erwartet werden. Weil die Zikaden-Plage wie von Geisterhand nur alle 17 Jahre stattfindet, sind etliche Bundesstaaten an der amerikanischen Ostküste im Früh-Alarmzustand. Auf der Internetseite www.magicicada.org kann jeden Tag nachgelesen werden, wo die Vorboten des Naturschauspiels gesichtet wurden, das immer nach Schema F verläuft.
Bis zu fünf Zentimeter lang
Kurz vor Sonnenuntergang geht es los. „Der Boden muss mindestens 18 Grad Celsius warm und am besten vom Regen etwas aufgeweicht sein“, sagt John Colley von der Universität von Connecticut. Wie auf Kommando kriechen dann Abermillionen Larven durch selbst gebaute „Kamine“ aus ihren 17 Jahre nicht verlassenen Schläferquartieren in rund 50 ZentimeternTiefe.
Einmal oben angekommen, kriechen sie die Bäume empor. Dann platzt ihr Panzer auf und ein schleimig-weißes Insekt kommt zum Vorschein. Nach zwei Stunden ist die Verwandlung abgeschlossen: ein ziemlicher Brummer, bis zu fünf Zentimeter lang, mit transparenten Flügeln und fünf roten Augen macht sich nach ein paar Tagen startklar zu einer zeitlich eng befristeten Liebestollerei, die immer lethal ausgeht; für den Mann.
Nach dem Sex stirbt das Männchen
Mit seinen am Hinterleib installierten Trommelorganen stimmt Herr Zikade drei bis fünf Wochen lang einen wellenartigen Sirenen-Gesang an. Einziges Ziel: Frau Zikade zu beeindrucken. Gelingt das Konzert, sirent die Dame flügelschlagend zurück. Danach paaren sich die Wildfremden. „Er“ segnet kurz danach das Zeitliche. „Sie“ legt wenige Wochen später bis zu 600 Eier in Baumrinden ab, die als Larven zu Boden fallen, sich eingraben, von Wurzelsäften ernähren und bedeckt halten. Bis die ganze Show nach gut anderthalb Jahrzehnten wieder von vorne losgeht. Warum? Rätselhaft.
Brood II frisst sich nicht wie die gemeine Heuschrecke durch Flora und Fauna, sticht auch nicht, lebt nur von Luft und Liebe und ist völlig ungiftig. Dafür nicht sonderlich schlau. Zu Tausenden dringen die hirnlosen Tiefflieger durch den Kamin in Wohnzimmer ein, ersaufen in Swimmingpools, scheuchen die Gäste von Barbecue-Partys nach drinnen und rammen die Fensterscheiben von Autos und Häusern. Das alles unüberhörbar. So laut wie drei Fan-Gesänge auf der Ost-Tribüne.
Fast so laut wie ein Propellerflugzeug
Wenn Millionen Zikaden loslegen, bringen sie es nach Messungen durch Wissenschaftler der Zeitschrift „National Geographic“ leicht auf hundert Dezibel. Beinahe so laut wie ein landendes Propellerflugzeug. Jeff Grossmann, Washingtonian seit 30 Jahren, erinnerte sich im Gespräch mit dieser Zeitung an die letzte Lärm-Orgie: „In unserem Garten saßen 20.000 Zikaden auf einem Baum. Nach zwei Tagen trugen die Kinder Kopfhörer auf dem Schulweg. Zuhause konnten wir uns zeitweise nur noch schreiend verständigen. Es war wirklich kaum mehr auszuhalten. Nur nachts hielten die Biester die Klappe.“ In diesem Frühling wollen die Grossmanns nach Kalifornien flüchten.
Köstlich in Olivenöl frittiert
Manche Küchenschefs zwischen Maryland und Virginia machen aus der Plage ein Geschäft. Mit Mehl bestäubt und in Butter geröstet oder in Olivenöl frittiert, schreibt der Gastro-Kritiker der „Washington Post“, schmecken Zikaden recht ordentlich – nach Kartoffeln oder Spargel.
Unterdessen bleibt für die Entomologen, wie Insektenkundler offiziell heißen, die Frage nach dem Warum weiter ungeklärt. Man hat die bereits im 17. Jahrundert dokumentierten Zikaden seziert und ihr Erbgut analysiert. Wer ihren inneren Rhythmus bestimmt, was sie regelmäßig alle Jubeljahre „weckt“, ist immer noch ein großes Fragezeichen. 2030 gibt es eine neue Chance zur Aufklärung. Bis dahin wird eine Facebook-Seite gewiss noch mehr Gäste bekommen. Titel: „Ich hasse Zikaden.“