Seit 26 Jahren sitzt Jens Söring in England und den USA im Gefängnis. Er soll einen Doppelmord begangen haben, doch er bestreitet das. Der Bundestagsabgeordnete Peter Bayer hat Söring, den Häftling mit der Nummer 179212, im Gefängnis besucht. Ein Besuch, der ihn überraschte.
Washington.
Nach dem stärksten Eindruck, den Peter Beyer von seinem Besuch bei Häftling 179212 im „Buckingham Correctional Center“ in Dillwyn/Bundesstaat Virginia mitgenommen hat, muss man den CDU-Bundestagsabgeordneten aus dem südlichen Ruhrgebiet nicht lange fragen. „Da war Hoffnung, seine Augen haben gestrahlt“, erzählt der 41-jährige Familienvater aus Heiligenhaus in einem Café in der Nähe des Weißen Hauses in Washington, „man kann sagen: Jens Söring war guter Dinge.“ Guter Dinge? Nach 26 Jahren Gefängnis in England und Amerika für einen Doppelmord, den er felsenfest nicht begangenen haben will? Nach einem von Verfahrensfehlern übervollen Prozess? Nach neuen Indizien und Zeugenaussagen, die im amerikanischen Rechtsystem einfach ignoriert werden? Nach sieben gescheiterten Ersuchen auf Begnadigung? Peter Beyer schildert Söring so, wie man ihn aus Fernseh-Reportagen von ZDF und ARD kennt: „Ganz auf seine Sache konzentriert, hellwach, verbindlich, alles andere als geknickt.“ Söring, so scheint es, trägt die Narben der Haft nach innen.
Rückblende: 30. März 1985. An diesem Frühlingstag werden der südafrikanische Stahl-Baron Derek Haysom (72) und seine Frau Nancy (55) in ihrem Wochenendhaus in Lynchburg im US-Bundesstaat Virginia brutal ermordet aufgefunden. Die Tatwaffe, ein Messer, wird nie gefunden. Auch keine Fingerabdrücke. Zeugen? Nirgends. Nach Wochen geraten Jens Söring, 19 Jahre alt, Begabten-Stipendiat an der Universität von Charlottesville, Sohn des deutschen Konsuls in Detroit, und seine Freundin Elizabeth Haysom (21), heroinabhängig, in die Mühlen der Justiz. Der Verdacht: Sie sollen für das Blutbad an Elizabeths Eltern verantwortlich sein. Motiv: Die Beziehung habe den alten Herrschaften nicht gepasst. Söring gesteht die Tat, obwohl der Vernehmungsbeamte massive Zweifel zu Protokoll gibt. Unmittelbar danach flieht das junge Paar nach England, lebt dort unter falschen Namen. Bis ein Scheckbetrug sie 1986 festsetzt. 1990, der Fall beschäftigt inzwischen ganze Regierungen, werden Söring und Haysom in die USA ausgeliefert.
Söring zieht sein Geständnis zurück. Er habe die Täterin, seine Freundin, vor der Todesstrafe bewahren wollen und darum die Schuld auf sich genommen. In der Annahme, auch ein deutscher Diplomatensohn genieße so etwas wie Immunität. Ganz falsch. 1990 kommt es in der Kleinstadt Bedford/Virginia zum Prozess. Söring geht als „german monster“ durch die Lokalpresse. Haysom sagt aus, sie habe ihren Freund angestiftet. Die Staatsanwaltschaft rechnet dem jungen Mann mit der großen Hornbrille einen „blutigen Sockenabdruck“ zu. Trotz schwerer Verfahrensfehler – Richter William Sweeney erklärt den Angeklagten vor Prozessbeginn in einem Zeitungsinterview für schuldig – wird Söring zu zweimal lebenslänglich verurteilt. Sein letzter Satz in Freiheit: „Ich bin unschuldig.“
In Haft bildet sich Söring wie besessen fort
Elizabeth Haysom bekommt in einem separaten Verfahren wegen Beihilfe 90 Jahre Gefängnis. In der Haft bildet sich Söring wie besessen fort. Mit Liegestützen und Klimmzügen trainiert er seinen schmächtigen Körper. Per Hand schreibt er, Computer sind verboten, bis heute acht Bücher. Zuletzt das lesenwerte „Nicht Schuldig! Wie ich zum Opfer der US-Justiz wurde“ und bemüht sich mit allen Mitteln um Begnadigung. Oder wenigstens die Abschiebung noch Deutschland. Kanzlerin Merkel kennt seinen Fall genauso wie Präsident Obama. Fortschritte in der Kriminalistik befeuern seine Bestrebungen. 2009 legt die Gerichtsmedizin Virginias ein Gutachten über 42 am Tatort gefundene DNA-Spuren vor. Nicht eine kann Söring zugeordnet werden. Ein neuer Zeuge taucht auf, der Elisabeth Haysom mit einem anderen Mann kurz nach der Tat gesehen haben will. Alle Versuche Sörings, vor dem „Bewährungs-Ausschuss“ Virginias neues Gehör zu erfahren, bleiben trotzdem erfolglos. Ausgelöst durch Medienberichte in Deutschland bildet sich ein Freundeskreis (www.jenssoering.de).
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Christoph Strässer verschafft den Unterstützern ein Forum im Parlament. Aus Berlin reist Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundsregierung, zum Gefängnis-Besuch an. 2010 scheint der Durchbruch nahe. Vor Ende seiner Amtszeit lässt sich der demokratische Gouverneur von Virginia, Timothy M. Kaine, auf ein hinter den Kulissen mit viel diplomatischem Aufwand ausverhandeltes Geschäft ein: Söring wird nach Deutschland überstellt, muss dort noch mindestens zwei Jahren einsitzen, bis die deutsche Justiz neu über ihn befinden kann; sprich: Entlassung. Ein Politikwechsel in Virginia spült kurz darauf Bob McDonnell ins Amt. Der neue republikanische Gouverneur verkündet am ersten Amtstag in der Hauptstadt Richmond zwei Entscheidungen: Die öffentliche Toiletten an den Highways werden wieder geöffnet. Und Söring bleibt hinter Gittern. In zwei Wochen steht McDonnell deshalb vor Gericht.
Eine Begnadigung vor der Präsidentschaftswahl ist unwahrscheinlich
Sörings Anwälte in den USA haben den Prozess durchgesetzt. Sie wollen deutlich machen, dass ihr Mandant zum Spielball der Politik geworden ist; hier die „weichen“ Demokraten, dort die „law and order“-Fraktion der Republikaner. Peter Beyer, der CDU-Bundestagsabgeordnete aus dem Ruhrgebiet, der vor über zehn Jahren an der gleichen US-Universität wie Söring studierte, hat die Sorge, dass der Prozess „das Klima beeinträchtigen könnte“. Vielleicht ist darum der Brief der 53 Abgeordneten des Bundestags an den Gouverneur so übervorsichtig geraten. Erst loben sie seine Führungsrolle bei der Anwerbung und Pflege deutscher Unternehmen in Virginia. Dann sprechen sie im „spirit of friendship“, im Geist der Freundschaft, die Causa Söring an und „bitten höflich um einen Gefallen“. Ob er gewährt wird? Weil der Fall in Virginia noch immer ein die Bevölkerung polarisierendes Politikum ist, wird nicht damit gerechnet, dass vor der Wahl zum Weißen Haus und zum Kongress am 6. November ein republikanischer Gouverneur einknickt und einen verurteilten Doppelmörder begnadigt.
Allerdings, so wissen Eingeweihte, könnte McDonnell dem von ihm handverlesenen „Parole Board“, dem Bewährungs- und Begnadigungsausschuss, der im Juli erneut die Personalie S. vorgelegt bekommt, informell einen Wink geben, dass man Söring doch zurück nach Deutschland überstellen möge. Vielleicht schon im nächsten Jahr. Für McDonnell wäre das „Gesichtswahrung“, heißt es. Für Jens Söring nach über 26 Jahren die Aussicht auf ein neues Leben. Peter Beyer ist der erste Bundestagsabgeordnete, der den Weg zu Söring gesucht hat. Er will wiederkommen. „Wir wollen uns nicht über die amerikanische Justiz erheben“, sagt er, „aber wir haben eine Verantwortung. Jens Söring soll nicht im Gefängnis sterben.“