Das ist aus der vergessenen Welt von „Second Life“ geworden
Einst war der Hype um Second Life gigantisch. Das Programm würde unser Leben verändern, hieß es. Doch schon lange gab es kein Lebenszeichen mehr aus der virtuellen Parallelwelt. Existiert sie noch? Ein Ausflug in ein digitales Universum zwischen LSD-Rausch und Post-Apokalypse.
Essen.
Die Zukunft sieht anders aus, als man damals annahm. Dass wir heute noch immer nicht mit schwebenden Skateboards á la „Zurück in die Zukunft“ zur Arbeit gleiten, hatten wir uns ja schon gedacht. Aber dass die echte Welt noch immer da ist und noch nicht von einer virtuellen Welt abgelöst worden ist, das überrascht uns.
Denn 2003 war Second Life die Zukunft. Schnell galt das Programm als Revolution des Internets, als Indikator für den Beginn einer digitalen Zeitenwende. Was genau wir in diesem Paralleluniversum machen sollten, wussten wir nicht. Aber wir hörten ständig davon, dass sich bald jeder hier eine zweite Existenz aufbauen würde: eine, in der wir reicher, schöner, berühmter sein könnten.
Die Digital-Pessimisten indes verfluchten Second Life als Suchtmaschine, die zu Realitätsverlust und Entmenschlichung führen würde: Die Menschheit als Zombievolk, das in digitalen Pixelwelten und virtuellen Bordellen verödet.
100-Jahre-PrognoseUnternehmen erkannten neue Absatzmärkte, Werbestrategen neue Vermarktungswege. Firmen wie Adidas oder BMW hatten von heut auf morgen repräsentative Firmensitze in der Zweitwelt. Keiner wollte was verpassen, alle wollten dabei sein – Goldgräberstimmung im Pixelland.
Penis-Attacke sorgte für Skandal
Mithilfe der eigenen Währung Lindendollar, die für wahres Geld gekauft werden konnte und immer noch gekauft werden kann, sollen es manche Nutzer zu Reichtum in der echten Welt gebracht haben, indem sie virtuelle Produkte verkauften. Bekanntheit hat zumindest eine Person erlangt, die via Second Life richtig viel Geld gemacht haben soll: Immobilienmaklerin Ailin Gräf beziehungsweise ihr digitales Alter Ego Anshe Chung.
Vorbei die Wild-West-Stimmung: Seit einiger Zeit dringen gar keine Berichte mehr aus dem Reich hinter dem Spiegel. Es gebe jetzt nur noch Cybersex-Ausschweifungen und Pornoinseln – das war die letzte Geschichte, die man sich vor ein paar Jahren noch erzählte. Schon fast unheimlich, diese Ruhe. Ist Second Life noch bewohnt? Oder wehen digitale Steppenläufer durch eine menschenleere Pixelwüstenei?
Eine Expedition ins Paralleluniversum soll das klären. Das Programm jedenfalls gibt es noch, die Internetseite des Second Life-Machers Linden Lab wirbt mit bunten Bildern. Ich sitze also am Schreibtisch, lade mir die Software auf den Rechner und lege mir einen Avatar an. Paul Zahl taufe ich mich und wähle willkürlich ein Startgebiet, das mir im Menü angezeigt wird. Ich drücke die Enter-Taste – und plötzlich wird es …
Schlägerei in der Anderswelt
… wahnsinnig bunt. Ich bin in einer Art Kneipe, die Wände sind lila, an der Decke hängt eine riesige Ananas, die sich dreht. Und vor mir an der Theke stehen Gestalten in engen Kleidern und mit quietschbunten Haaren. Die meisten von ihnen haben Katzenohren, ein paar haben Flügel. Ein Typ namens Dark King – er hat keine Flügel, dafür ragt ein Horn aus seinem Pferdeschädel – schreit die toupierte Dame neben ihm an. Barbarella heißt sie, und sie bedrängt den King mit ihren Schwingen. Eine Schlägerei steht anscheinend kurz bevor. Erst jetzt bemerke ich, dass ich selbst nur als weiß-graue Wolke existiere. Ich bin körperlos. Vermutlich liefert kein noch so wilder LSD-Rausch abgefahrenere Szenerien. Fear and Loathing in 3D.
Höflich frage ich per Textbotschaft in die Runde, ob jemand wisse, warum ich wie Nebel aussehe. „Shut up“, brüllt der King und ich teleportiere mich sicherheitshalber mittels Mausklick in eine andere Wirklichkeit.
Halbnackte Frauen tanzen zu Bon Jovi
Es gibt also durchaus noch Leben im Paralleluniversum. Nach meinem brisanten Erlebnis in der Bar wähle ich im Menü ein Gebiet, das mir das Programm als „anfängerfreundlich“ empfiehlt. Die Umgebung, in der ich lande, ist eine Art Strandclub. Ein paar Palmen stehen in einer Ecke, bunte Lampions spannen sich über die Tanzfläche, dahinter schwappt ein digitaler Ozean vor sich hin.
Laut Status-Anzeige sind außer mir noch elf weitere Avatare hier. Aus virtuellen Lautsprechern dröhnt Bon Jovis „Living on a prayer“. Die Avatare schwingen ihre animierten Tanzbeine, flirten und kichern. Ein kleiner Tigermensch feuert eine halbnackte Pixel-Frau mit rosa Haupthaar an: „Shake it, Baby!“ Und ich bin immer noch eine graue Wolke. Wieder frage ich: „Weiß jemand, warum ich wie Nebel aussehe?“ Hier ist man freundlicher, als in der Bar vom Anfang. „Ach, wie süß, ein Neuling“, sagt der zweibeinige Tiger.
Francoise hilft – und ich werde ein Mensch
Eine dunkelhäutige Pixelfrau namens Francoise bietet mir ihre Hilfe bei der Menschwerdung an. Wir ziehen uns zurück auf eine unbewohnte Insel mit weniger Betrieb – „da geht’s schneller“, sagt Francoise auf englisch. In der echten Welt ist sie Italienerin – jedenfalls schreibt sie das ins Chatfenster. Nach fünf Minuten intensiver Rechts- und Linksklickerei durch diverse Menüs habe ich dank Francoises Anleitung schließlich einen echten Körper: Aus der Wolke ist ein kleiner rothaariger Kerl in dunklem Anzug geworden.
Ich danke Francoise für ihre Hilfsbereitschaft. „Newbies just need help“, antwortet sie lakonisch – Neulinge brauchen halt Hilfe. Sie selbst sei seit ein paar Jahren bei Second Life angemeldet. Falls ich Fragen hab, soll ich sie nur stellen, erklärt sie. Also frage ich: Was kann man hier in der Welt eigentlich so machen? Francoise scheint kurz nachzudenken, bevor sie antwortet. Jedenfalls dauert es ein paar Momente, bis sie ins Chatfenster schreibt: „Everything you want to do: Dancing, talking … just hang out“ – alles, was du willst: Tanzen, quatschen, einfach abhängen. Eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten.
Ich will mehr sehen. Per Teleport-Button springe in ein neues Gebiet, das mir zufällig im Hauptmenü angezeigt wird. Die Landschaft, in der ich ankomme, ist flach und grün. Als hätte jemand versucht, norddeutsche oder niederrheinische Provinz nachzubauen. Es erhebt sich nichts außer zwei großen grauen Pixelwürfeln, die aussehen wie Gebäude im Rohbau. Ich fühle mich an Urlaubsgegenden erinnert, deren Boomzeiten vorbei sind, bevor sie angefangen haben.
„Du siehst aus wie einer von ZZ Top“
Hier treffe ich Milo. Mit seinem Bart und der Sonnenbrille sieht er aus wie einer von ZZ Top. „Du siehst aus wie einer von ZZ Top“, sage ich zu ihm. Paul Zahl ist ja ganz schön unverschämt, denke ich. So direkt ist man vielleicht nur im virtuellen Leben. Milo nimmt’s mit Humor: „ZZ Top ist cool“, sagt er. Nach einigen Gesprächsfetzen auf englisch stellt sich heraus, dass Milos echtes Ich Deutscher ist. Und schon beginnt das Floskeln: Wie klein die Parallelwelt doch ist, Wahnsinn, Menschenskinder!
Milos Avatar freut sich sichtlich, er hüpft ein bisschen und wedelt mit den Armen. Mein Avatar steht nur stocksteif da. Als ich ihn wenigstens beschwingt vorwärts gehen lassen will, rutscht er nur lustlos über den Boden. Mir fehlen die entsprechenden Animationen, erklärt Milo: Solange ich der Figur keine vorprogrammierten Bewegungsabläufe verpasse, bleibt sie ein kleiner rothaariger Phlegmatiker.
„Durch Second Life wird das Internet 3D“
Seit gut einer Stunde wandle ich in der digitalen Welt. All die Hürden, die ich nehmen muss, bevor ich überhaupt irgendwas hier machen kann, nerven mich allmählich. „Linden Lab hat das Interface in der Tat viel zu komplex gestaltet“, erklärt Andreas Mertens, mit dem ich nach meinem virtuellen Ausflug in der echten Welt spreche. Mertens ist Kybernetiker und war Second-Life-Bewohner der ersten Stunde.
Bis 2010 hat er – oder vielmehr sein Avatar Patrick Wunderland – Web-Seminare im virtuellen Raum gegeben. „Dafür ist Second Life prädestiniert. Das Internet ist quasi 2D, und durch Second Life wird es 3D.“ Warum hat es sich dennoch nie durchgesetzt? „Das kann man so nicht sagen“, findet Mertens. „Die, die das Programm verstanden haben, nutzen es ja weiterhin.“ Second Life sei womöglich ein großes Missverständnis gewesen: „Auf einmal war das ein Riesen-Hype“.
Einen roten Faden gibt es nicht
Die meisten Nutzer hätten Second Life als Spiel verstanden, dabei sei es mehr als das. Es ist nicht leicht, einem Laien den Sinn von Second Life in ein paar Sätzen zu erklären, das wird schnell klar. Mertens versucht es trotzdem: „Denken Sie an eine Telefonkonferenz. Alle sollen sich namentlich vorstellen. Problem: Wie legen Sie die Reihenfolge fest? In einem Second Life-Raum stellen sich die Teilnehmer eben im Uhrzeigersinn vor, wie im richtigen Leben.“ Für Konferenzen, oder um Lerninhalte schnell und kostengünstig und zu vermitteln, dafür sei Second Life prima. Einen roten Faden, eine Anleitung für die Benutzer gebe es aber nicht: „Viele schätzen genau das, andere hat das enttäuscht.“
Nicht mal zwei Jahre nach dem großen Rausch begannen fast alle Unternehmen, ihre Second-Fililalen zu schließen und die Bewohnerzahlen schrumpften. Auch Mertens‘ Avatar Patrick Wunderland ist nur noch selten in der Parallelwelt unterwegs: Für ihn lohne sich das nicht mehr, „das allgemeine Interesse ist ja doch abgeflaut.“
Kochen ohne Geschmackssinn
In Goslar gibt es noch Interesse. Viele deutsche Unis und Volkshochschulen hatten vor ein paar Jahren noch virtuelle Dependancen – die allermeisten haben inzwischen ihre Tore geschlossen. Eine der letzten Enklaven ist die VHS Goslar. „Virtuelle Welten eignen sich hervorragend für Unterricht, an dem Menschen teilnehmen möchten, die nicht alle am selben Ort wohnen oder so ohne weiteres zu Kursen gehen können, weil sie zum Beispiel pflegebedürftige Angehörige haben“, sagt Christine Fischer von der VHS.
Die Kursteilnehmerzahlen hätten sich in den letzten Jahren kaum verändert – einen Grund, die Pixel-VHS dicht zu machen, gab es nicht. Im Gegenteil, sagt Fischer: „Der Unterricht selbst lässt sich vielseitiger gestalten als in einem normalen Klassenraum. Zu jedem Thema kann die passende Umgebung aufgebaut werden“, erklärt sie. „Wenn ich im Englischkurs das Thema Flughafen anbiete, baue ich mit einem Klick einen Flughafen auf, in dem die Avatare im Rollenspiel Gespräche üben können. Das fördert den Lernerfolg.“ Es gibt sogar einen Kochkurs. Auch wenn keiner der Avatare einen virtuellen Geschmackssinn hat – die theoretischen Grundlagen des Kochens können sie hier lernen.
Der Hype ist vorbei, die Erwartungen an Second Life waren vielleicht zu groß. Doch ausgestorben ist die digitale Welt noch nicht. Laut Second Life-Macher Linden Lab haben über 30 Millionen Menschen noch immer einen Account, 30.000 sollen täglich eingeloggt sein. Kaum zu glauben, überfüllt sah die Parallelwelt für mich nicht aus – aber vielleicht verteilen sich die Avatare einfach nur besonders gut.
Von Sexausschweifungen und Pornoinseln habe ich übrigens nichts gesehen – auch wenn es sie wohl irgendwo gibt, wie Second Life-Experte Mertens mutmaßt. „Die meisten, die noch da sind, nutzen das Programm aber vor allem zum 3D-Chatten, oder um sich kreativ auszutoben.“
Wiedergeburt dank Google Glasses?
Und vielleicht erlebt das Paralleluniversum ja einen zweiten Urknall. „Bei mir ist Second Life auf Wiedervorlage“, sagt zumindest Andreas Mertens. „Wenn es in Zukunft andere technische Möglichkeiten gibt und die Steuerung besser funktioniert, dann könnte Second Life wieder an Bedeutung gewinnen.“
Andere technische Möglichkeiten? Augmented Reality sei das Stichwort, sagt Mertens: „Zum Beispiel könnte Second Life oder eine ähnliche virtuelle Welt eine Rolle spielen, wenn Google Glasses kommt. “ Google Glasses – jene Computer-Brille also, die virtuelle und reale Realität verknüpfen soll.
Die scheint bislang das zu sein, was mal das Hoverboard aus „Zurück in die Zukunft“ war: Eine Vision von dem, was mal sein könnte. Sollte die Brille mal irgendwann massentauglich werden und virtuelle Welten real erfahrbar machen, kann ich allen nur raten: Halten Sie sich von der Bar mit Barbarella und dem King fern.