Stuttgart.
„Er ist nicht der Täter“, hatte Hardy Schober, der Vorstand des Aktionsbündnisses Winnenden vor diesem Prozess gemahnt, „das dürfen wir nicht vergessen. Er ist der Vater des Täters.“
Doch mit jeder Minute, in der er nicht im Saal 1 des Stuttgarter Landgerichts erscheint, wird es hier stiller. So angespannt sind sie, deren Kinder, Geschwister, Partner bei dem Amoklauf starben. Erst als der Richter ihn zweimal über Lautsprecher ausruft „Herr K., bitte in den Saal“, „Herr K., bitte!!!“, da bewegt er sich zur Anklagebank. Ein kleiner, untersetzter Mann, der entschlossen ist, zu schweigen.
Er hat gewartet. So lange bis die Fotografen den Raum verlassen hatten. Und außer seinem Geburtsdatum wird aus seinem Mund nichts zu hören sein. Er ist Jörg K., der Vater des Amokläufers von Winnenden, des 17-jährigen Tim K.. Mit seiner Waffe, einer Beretta 92 FS, tötete der Junge 15 Menschen, verletzte er elf weitere.
Eineinhalb Jahre danach sitzt der 51-Jährige auf der Anklagebank wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz, weil er, ein Sportschütze und Waffenverrückter, Pistole und Munition nicht weggeschlossen hatte, sondern in Kleiderschrank, Nachttisch und Keller versteckt hatte.
Läuft es schlecht für ihn in diesem Prozess, muss er sich auch wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verantworten. Darauf weisen Staatsanwaltschaft und Gericht hin. Nun sitzt er da, auf der Anklagebank, lässt den Blick dann und wann schweifen. Fixiert von jenen, die ihre Lieben verloren haben. Gisela und Gerd Mayer etwa, deren Tochter Nina, eine Referendarin der Albertville-Realschule, so jung starb.
Es ist ein mühseliges Prozedere, ein selten trauriges, das Richter Skujat absolviert. Jeden einzelnen der 41 Nebenkläger ruft er auf, fragt sie, wen sie vertreten. Und ihre Antworten sind immer die gleichen: meine getötete Tochter Chantal, meine getötete Tochter Stephanie, meine Tochter Nina, die Referendarin. Gisela Mayer, die sonst so gefasste Frau, sagt es, schließt die Augen und schluckt.
Später, als die Anklage verlesen wird, mit all den Details der Schüsse und Namen, fließen bei ihr die Tränen. Als Jörg K.s Anwalt anschließend für diesen eine Erklärung vorträgt, und intensiv die schwierigen Lebensumstände der Familie des Amokläufers nach der Tat beschreibt, verlässt Frau Schill den Raum.
Keine akute
Gefahr gesehen
„Der Angeschuldigte hat die Tat seines Sohnes durch das vorschriftswidrige Verwahren der Sportpistole sowie der Munition ermöglicht. Er hätte dies voraussehen können“, hatte Staatsanwältin Eva Hanss erklärt. Und Jörg K.s Verteidiger Hubert Gorka behauptet genau das Gegenteil: „Hätte er die Tat erkennen, vermeiden können, hätte er es getan!“ Selbst die Psychotherapeutin, mit der Tim K. vor der Tat fünf Sitzungen lang redete, habe keine „akute Gefahr“ gesehen.
Was all die Opfer und ihre Angehörigen erbost, ist die Tatsache, dass Jörg K. seinen Anwalt zwar von „unmenschlichem Leid, von Mitgefühl“ sprechen lässt, dass dieses jedoch alsbald darauf hinlenkt, dass die Folgen der Tat seines Sohnes so hart für K. seien, dass – juristisch ist das möglich – von einer Strafe abgesehen werden solle.
Seit dem Amoklauf litte die Familie unter Morddrohungen, werde sie psychologisch betreut, sei sie umgezogen und habe ihren Namen gewechselt. Weil er, Jörg K., so stark belastet sei, wolle er selbst sich nicht äußern, übernehme das sein Anwalt. Gisela Mayer, die vor der Verhandlung noch gehofft hatte, diese Begegnung böte die Chance, den Vater und die Familie besser zu verstehen, stiebt verärgert aus dem Gericht: „Enttäuschend! Es gab keine persönliche Entschuldigung“, sagt sie. Hardy Schober, dessen Tochter nicht einmal 16 Jahre wurde, geht wortlos weg.