Hochseil-Artist Wallenda spaziert über die Dächer Chicagos
Man könnte ihn für lebensmüde halten, aber vielleicht ist es genau das Gegenteil: Nik Wallenda will wieder einmal aufs Drahtseil, in 190 Metern Höhe, ungesichert – und diesmal sogar blind. Tatort ist am Sonntagabend Chicago – weil New York nicht nur um den Artisten Angst hatte.
Chicago.
Leute wie ihn nennt man in Amerika „Daredevil“, und „Teufelskerl“ reicht irgendwie nicht für die Übersetzung: Nik Wallenda ist ein Extremist im sportlichen und artistischen Sinne, er ist Draufgänger und Wagehals, ein Abenteurer und Hasardeur. Alle paar Monate versetzt er die Welt in Staunen. Diesmal ist der Tatort Chicago: Am Sonntagabend (Ortszeit) will der 35-Jährige ohne Sicherung gleich zweimal auf dem Seil über die Dächer der kalten und windigen Stadt spazieren. Für beide Läufe hat er sich noch eine Steigerung ausgedacht.
Das ist im ersten Fall wörtlich zu nehmen. Zuerst will er von einem 160 Meter hohen zu einem mehr als 190 Meter hohen Wolkenkratzer über den Chicago River balancieren – das ist eine Steigung von gut 15 Prozent, die er auf dem Seil überwinden muss. Beim zweiten Teil ist das Seil gerade – dafür will er es mit verbundenen Augen machen. Training für das Alter, sagt er: „Ich habe mich gefragt, wie ich über das Seil komme, wenn ich einmal nichts mehr sehe.“
Zur Erinnerung: Chicago nennt sich „Windy City“. Das hat zwar auch andere Gründe, aber trotzdem kann vom meeresgleichen Lake Michigan immer wieder eine scharfe Böe kommen. Und die Stadt ist kalt. Mit mehr als vier, fünf Grad darf der „Daredevil“ nicht rechnen. „Chicago ist die Stadt des ersten Wolkenkratzers. Nik Wallenda wurde in die erste Familie von Hochseilartisten geboren. Sie waren immer füreinander bestimmt“, heißt es selbstbewusst auf Wallendas Website.
„Wer nicht in meine Familie geboren wurde, kann das kaum verstehen“, sagt Wallenda. „Aber mein Urgroßvater hat immer gesagt, das Leben spiele sich auf den Seil ab. Alles andere ist nur Warten darauf.“ Dieser Karl Wallenda, vor 110 Jahren in Magdeburg geboren, stürzte 1962 mit sechs Familienmitgliedern ab, zwei starben, sein Adoptivsohn Mario wurde querschnittsgelähmt. Er selbst überlebte schwer verletzt.
New York erlaubt keinen Spaziergang zwischen Empire State und Chrysler Building
Nik Wallenda wurde 1979 geboren, mit zwei Jahren übte er schon auf dem Seil. So ist das bei den Wallendas. „In meiner Familie gehen derzeit 15 Leute auf dem Drahtseil“, sagt er. „Das schließt meine drei Kinder ein.“ Über die Niagarafälle und über den Grand Canyon lief er, eigentlich sollte jetzt New York dran sein. Den Spaziergang zwischen Empire State Building und Chrysler Building erlaubte aber die Stadt nicht. Zu gefährlich sei das – auch für die Zuschauer.
Also Chicago. „Man sollte denken, dass sich Hochseilartisten von einer „windigen Stadt“ fernhalten“, sagte Wallenda. „Ich liebe es aber, mich herauszufordern.“ Für den Lauf, den er seinem Urgroßvater Karl widmet, trainiere er bei Windgeschwindigkeiten von bis zu 80 Meilen in der Stunde, das sind mehr als 130 Kilometer in der Stunde – allerdings mit Sicherung. „Aber bei mehr als 50 Meilen setze ich in Chicago keinen Fuß auf das Seil.“
Für Wind und Kälte kann man trainieren, sagt Wallenda, das Entscheidende sei, dass die Seile ordentlich verspannt seien. „So lange das Seil stabil unter meinen Füßen ist, bin ich zuversichtlich, es rüber zu schaffen. Und wenn nicht, dann kann ich immer noch das Seil greifen und mich festhalten.“ Er trainiere so, dass er es mindestens 20 Minuten aushalte. Gleichzeitig habe er sein Team so organisiert, dass sie nach spätestens 90 Sekunden bei ihm sind.
Vor 36 Jahren stürzte allerdings in Puerto Rico trotzdem ein Hochseilartist in den Tod. Auch hier war das Seil zwischen zwei Hochhäusern gespannt, der 73-Jährige bekam es aber nicht zu fassen. Es war Karl Wallenda, Niks Urgroßvater. (dpa)