Münster. „Lieber Gott, lass‘ mich für immer einschlafen.” Stefan Lange hat gerade 80 Schlaftabletten geschluckt. Er sitzt im Auto und betet den Tod herbei. Mit Beten hatte er schon mal Erfolg. Immerhin war er als 6-Jähriger erhört worden: Mit dem Tod seines Vaters war es vorbei mit den Schlägen.
Endlich würde er nicht mehr das „Würstchen” sein. Jetzt, als 29-Jähriger, sehnt er sich nach Ruhe im Kopf. Er will der Sinnlosigkeit seines Lebens entfliehen. Tod bedeutet für Stefan Lange Erlösung. Die 80 in Erdbeerjoghurt eingerührten Schlaftabletten beginnen zu wirken. Doch als er glaubt, endlich im Himmel angekommen zu sein, erweist sich das strahlende Weiß als Kachelwand einer Krankenstation. Der 29-Jährige hat seinen Selbstmordversuch überlebt. Heute, 14 Jahre später, kann er über seine Depressionen und den Versuch, ihnen zu entkommen, offen sprechen.
„Ich hatte Minderwertigkeitskomplexe. Ich fühlte mich nutzlos”, sagt Stefan Lange. Der vom Vater – einem traumatisierten, aber hoch angesehenen Bundeswehrsoldaten – eingeprügelten Schüchternheit; die von der Mutter tolerierte Demütigung bestimmen sein Lebensgefühl. Schon als junger Schüler sucht er Anlässe, seine innere Leere mit Alkohol zu betäuben. Hinter der Fassade des Klassenclowns versteckt er sein wahres Ich. Der Münsteraner lässt keine Nähe zu. Auch nicht zu seinen späteren Freundinnen und Freunden aus dem Studium. Niemand ahnt, dass Lange schwere Depressionen hat.
Traurigkeit und Melancholie hindern ihn nicht daran, die Grundpfeiler für ein mögliches erfolgreiches Leben zu setzen. Er meistert Abitur, eine Lehre zum Groß- und Außenhandelskaufmann und ein Betriebswirtschaftsstudium. Dennoch hat er kein Erfolgsgefühl. Das verhasste, nicht abstellbare Seelentief hat immer Oberhand und lässt ihn denken: „Ich bin sowieso ein Verlierer.” Einem Auslandssemester in Japan lässt er einen Wirtschafts-Sprachkursus in Sevilla folgen. Hier lernt er nicht nur Spanisch, sondern auch die Liebe seines Lebens kennen. Stefan Lange erzählt von der Begegnung mit Susanne. Sein Herz beschwört das Gefühl von damals. „Es war wie ein Tsunami.” Es zog ihn zu dieser Frau – mit aller Macht.
Dass sein Gefühl erwidert wird, macht ihn skeptisch. „Was will sie von dir?” Doch es scheint eine Seelenverwandtschaft zu sein. Die beiden verbringen vier „traumhaft intensive” Wochen zusammen, schmieden Pläne für ein gemeinsames Leben in der Schweiz. Dann reist die Traumfrau ab, und Stefan Lange kümmert sich um eine Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz. Wenige Tage später klingelt sein Telefon. Die Liebe seines Lebens beendet die große Liebe. Der, der sich immer als Loser fühlte, wird in seinem Minderwertigkeitsgefühl bestärkt.
Hinter erfolgreicher Fassade war innere Leere
„Das war der Expresslift nach unten”, sagt Stefan Lange. Er fühlt sich missbraucht, enttäuscht. Er reist zurück nach Deutschland. Arbeitet bei einer Versicherung. Zumindest versucht er es. „Letztlich war mir alles scheißegal.” Seinen Job ist er bald los. Seinen Freunden will er sich nicht erklären und schildert nur kurz, was passiert ist. Er schämt sich seiner Gefühle.
Er fängt an, Bilanz zu ziehen. Fazit: Sein Leben macht keinen Sinn. Er sieht keine Perspektive und trifft den Entschluss: „Feierabend. Du machst Schluss.” So paradox es klingen mag: Von diesem Moment an beginnt seine Hochphase: Erstmalig hat der 29-Jährige das Gefühl, die Kontrolle über sein Leben zu haben. Er plant seinen Suizid und – ist gut gelaunt. Niemand seiner Freunde ahnt, dass er Tabletten hortet und trainiert. Er trainiert, zehn Tabletten auf einmal zu nehmen. „In Kombination mit Alkohol war das herrlich. Endlich Ruhe im Kopf.”
Als es soweit ist, reist er in die Schweiz. Er besucht seine Traumfrau – zumindest schafft er es, sie nochmal kurz zu sehen. Dann sucht er sich ein „nettes Plätzchen” zum Sterben. Eine Waldlichtung am Bodensee. Er schluckt das Schlafmittel. Drei Tage später wacht er der Krankenstation der Polizei auf. Die Polizei teilt ihm mit, dass er mit seinem Wagen fünf parkende Autos und drei Gärten beschädigt hat und schließlich bewusstlos im Straßengraben gelandet ist. „Dass es mir nicht mal gelungen ist, mich zu töten, fand ich unerträglich”. Zurück in Münster sammelt er wieder Tabletten für den zweiten Versuch. Er schlägt sich mit Sozialhilfe durch und sammelt Pfandflaschen. Es ist ein Zufall, der ihn in der Fußgängerzone in die Arme einer alten Freundin treibt. Die sieht sofort, was los ist und rettet die Unglücksseele. Ihre Drohung: entweder Therapie oder Ende der Freundschaft, verfehlt ihre Wirkung nicht.
Ein Psychologe hört zu und fordert Stefan Lange auf, seine Geschichte aufzuschreiben. Das tut er. Sechs Wochen lang. „Das war heilsam.” Es folgt ein Jahr des Kampfes gegen seine inneren Dämonen. Seine Rettung hat er später in dem Buch ,,Drei Monate und ein Tag” beschrieben. Angst, dass er nochmal eingeholt werden könnte von der tiefen Depression und Selbstmordgedanken, hat er nicht. „Nein. Ich habe mich gefunden. Ich lebe gerne” Stefan Lange lebt heute mit seiner Lebensgefährtin in Locarno in der Schweiz und arbeitet als Immobilienmakler. Sein Rat an alle, die von Depressionen gequält werden: „Man muss darüber sprechen. Sonst gibt es keine Hilfe.”