Jungen sind im Fach Mathematik nicht begabter als Mädchen. Aber die Rahmenbedingungen sind für sie günstiger, ihr Talent zu entwickeln. Dass Mädchen trotzdem glänzen können, beweist die erfolgreichste Matheschülerin der Welt: Lisa Sauermann.
Münster/Bonn.
Einmal Silber und dann viermal in Folge eine Goldmedaille bei der Internationalen Mathematik-Olympiade: Das ist einmalig und unübertroffen. Die Person, die damit im letzten Jahr in die Geschichte des wichtigsten Schülerwettbewerbs im Fach Mathematik eingegangen ist, kommt aus Deutschland – und heißt Lisa Sauermann.
Aber sind nicht Jungen besser in Mathe, Mädchen besser in Sprachen? „Bei der Olympiade sind vielleicht zehn Prozent der Teilnehmer weiblich“, weiß auch Lisa Sauermann zu berichten. Ins Bild passt, dass Hirnforscher Unterschiede zwischen Männern und Frauen gefunden haben, darunter im Sprachzentrum und in der für die räumliche Vorstellung zuständigen Region. Doch in der Begabungsforschung, den Kultur- und den Erziehungswissenschaften mehren sich die Studien, die die alte Annahme ins Wanken bringen. Jungen und Mädchen sind demnach im Durchschnitt gleich mathematikbegabt. Die männliche Dominanz lässt sich dennoch erklären.
Spielerisch-Kreativefallen durchs Raster
„Es steht völlig außer Frage, dass Mädchen und Jungen das gleiche Potenzial haben“, sagt Ralf Benölken. Der Mathematikdidaktiker arbeitet an der Universität Münster und hat sich intensiv mit dem Thema befasst. Überhaupt habe die Begabungsforschung in keiner Disziplin grundlegende Unterschiede zwischen den Geschlechtern festgestellt. „Warum sollte es die einzig in Mathematik geben?“, fragt Benölken. Er hat im Unterricht eine andere Erklärung beobachtet. „Mädchen gehen methodisch ganz anders vor“, erklärt der Didaktiker. Während Jungen nach dem Prinzip Versuch und Irrtum einfach mal loslegen, haben Mädchen eine ganzheitliche Herangehensweise, fertigen zunächst Skizzen an und zeichnen den Lösungsweg auf. „Mädchen benötigen mehr Zeit“, sagt Benölken, Zeit, die ihnen im Unterricht nicht immer gegeben werde. Wenn Lehrer der höheren Bereitschaft zur kooperativen Arbeit mehr Raum gäben, profitierten davon auch die konkurrenzorientierten Jungen, weiß der Didaktiker. So jedoch werden begabte Schülerinnen oft gar nicht als solche erkannt und gefördert. Gerade spielerisch-kreative Mädchen fallen durch das Raster der Begabtenidentifikation, hat Benölken beobachtet.
Aus seinem Referendariat erinnert sich Benölken an ein Negativbeispiel: Als bei einer Aufgabe nur ein paar Jungen aufzeigten, fragte die Lehrerin: „Was ist mit den Mädchen? Dann hole ich mal Anna an die Tafel, der traue ich das zu.“ Gleich dreimal falsch, befand der Didaktiker schon damals. „Die geschlechtsspezifische Förderung ist zwar gut“, sagt Benölken, aber die direkte Ansprache und das Nach-vorne-Holen seien schlecht. Und die anderen Mädchen würden diskreditiert, weil ihnen die Lehrerin die Leistung anscheinend nicht zutraue.
Es ist aber nicht allein die Schule, die entscheidet, ob sich talentierte Mädchen zu Mathe-Profis wie Lisa Sauermann entwickeln. Die Tochter einer Physikerin und eines Ingenieurs hatte schon als Kind Spaß an Knobelaufgaben. „Wenn man eine Stunde vor einer Aufgabe sitzt und sieht plötzlich, wie sich alles auflöst – das ist ein tolles Gefühl!“, schwärmt sie. Geholfen hätten ihr auch die Brettspiele, mit denen ihre Eltern ihr Interesse an der Logik gefördert haben. Das einzige Hobby, das sich langfristig neben der Mathematik behaupten konnte, war die Blockflöte.
Meistens viele Hobbys
Das ist ungewöhnlich, weiß Benölken. „Mädchen haben meist viele Hobbys – Pferde, Fremdsprachen, Lesen… Das kann dazu führen, dass trotz Spaß und Begabung andere Dinge wichtiger sind als Mathematik.“ Jungen hingegen hätten meist nur ein kognitives Interesse, das sich entsprechend stärker entwickle. Lisa Sauermann kann das aus ihrer eigenen Familie bestätigen: „Meine zwei Jahre jüngere Schwester hat viele Hobbys“, sagt sie. Darunter sind zwar Mathe, Physik und Chemie, aber beispielsweise auch Gesang und Gitarre.
Sie selbst ist jetzt 19 Jahre alt und studiert seit einem Semester Mathematik an der Universität Bonn. Eben erst wurde sie als Siegerin des Bundeswettbewerbs Mathematik bekannt gegeben – zum sechsten Mal. „Mein Traum ist es, in die Forschung zu gehen, an der Uni. Aber ich könnte mir auch einen Job in der Wirtschaft vorstellen“, sagt Lisa Sauermann. Mathematik werde an vielen Stellen gebraucht.