Die beiden Forscher kommen aus Japan und Großbritannien. Mit ihrer Forschung hätten die Wissenschaftler Yamanaka und Gurdon das Verständnis über die Entwicklung von Zellen und Organismen revolutioniert, heißt es in der Begründung der Jury. Der Nobelpreis ist mit knapp 930.000 Euro dotiert.
Stockholm.
Der Nobelpreis für Medizin geht in diesem Jahr an die Stammzellenforscher Shinya Yamanaka aus Japan und John B. Gurdon aus Großbritannien. Ausgezeichnet werden sie
für die Entdeckung, dass auch erwachsene, bereits spezialisierte Zellen wieder
dazu gebracht werden können, sich wie Stammzellen zu verhalten.
Auf bestimmte
Weise manipuliert, können diese reprogrammierten Zellen dann wieder fast alle
Gewebe des menschlichen Körpers hervorbringen. Die Erkenntnisse zur „Umprogrammierung reifer Zellen in pluripotente“ Stammzellen hätten das Verständnis über die Entwicklung von Zellen und Organismen revolutioniert, gab die Nobel-Jury des Karolinska-Instituts am Montag in Stockholm bekannt.
Programmierung von Zellen kann rückgängig gemacht werden
Lange Zeit galt das Schicksal einer erwachsenen Körperzelle als
besiegelt: Einmal ausdifferenziert, könne sie sich zwar teilen und vermehren,
aber nur noch genau den Zelltyp hervorbringen, zu dem sie auch selbst gehört.
Aus einer Hautzelle wird demnach immer wieder nur eine Hautzelle, der Vorläufer
einer Knochenzelle bringt nur Knochenzellen hervor. Anders ist dies im Embryo:
In den ersten Tagen nach der Befruchtung sind dessen Zellen noch Alleskönner.
Diese sogenannten Stammzellen haben noch das Potenzial, sich zu allen Zelltypen
und Geweben des Körpers fortzuentwickeln. Erst im Laufe der Entwicklung des
Fötus‘ entstehen immer speziellere Zellen – ein Trend, den man für eine
Einbahnstraße hielt.
John Gurdon, der an der Universität Oxford studierte und im ebenso renommierten Cambridge lehrt, entdeckte 1962, dass die
Programmierung erwachsener Zellen unter bestimmten Bedingungen doch rückgängig
gemacht werden kann. Er ging dabei von der Annahme aus, dass theoretisch jede
Zelle des Körpers noch die volle Erbinformation enthält – also auch die
Information, die für sämtliche anderen Zelltypen benötigt wird.
Normalerweise
aber wird diese Information nicht komplett mit ausgelesen – wie bei einem Buch,
bei dem die Seiten einiger Kapitel verklebt sind und damit unleserlich. Jede
Zelle liest dadurch quasi nur den Teil der genetischen Bauanleitung, die sie für
ihre Zellfunktionen benötigt.
Erkenntnis zunächst mit Skepsis aufgenommen
In einem Experiment mit Froscheiern gelang es Gurdon jedoch zu
beweisen, dass diese Leseblockade aufgehoben werden kann. Für seinen Versuch
pflanzte Gurdon den Zellkern einer erwachsenen Darmzelle in die Eizellhülle
eines Frosches ein. In Kultur gehalten, entwickelte sich aus diesem Konstrukt
nicht etwa eine Darmzelle, sondern ein voll funktionsfähiger Frosch. Die mit dem
Darmzell-Erbgut ausgestattete Eizelle brachte alle für einen kompletten Körper
nötigen Gewebe und Zellen hervor. Die Eizellumgebung musste den eingepflanzten
Zellkern und sein Erbgut irgendwie umprogrammiert haben, so Gurdons
Schlussfolgerung. Die Leseblockade für den normalerweise im Darm nicht
benötigten Teil der DNA musste aufgehoben worden sein.
Diese Erkenntnis des Forschers wurde von seinen Kollegen zunächst mit
Skepsis aufgenommen. Bald jedoch gelang es auch anderen Wissenschaftlern,
Gurdons Ergebnisse nachzuvollziehen. Eine Frage blieb dabei allerdings noch
offen: Welche Faktoren führten dazu, dass der Kern der erwachsenen Körperzelle
plötzlich wieder zu einer undifferenzierten Stammzelle wurde?
Mehr als 40 Jahre später lieferte Yamanaka die Antwort
Eine Antwort auf diese Frage lieferte mehr als 40 Jahre später Shinya
Yamanaka vom Nara Institute of Science and Technology in Japan. Er arbeitete mit
embryonalen Stammzellen, den Zellen des Embryos, die noch pluripotent sind, aus
denen also noch alle verschiedenen Gewebetypen entstehen können. Yamanaka und
seine Kollegen wollten herausfinden, was diese Zellen zu Stammzellen macht und
vermuteten diese Einflussfaktoren in den Genen.
In mehreren Experimenten schleusten die Forscher verschiedene Gene
aus den embryonalen Stammzellen von Mäusen in erwachsene Zellen aus dem
Bindegewebe, sogenannte Fibroblasten, ein. Anschließend beobachteten sie mit dem
Mikroskop, ob sich an den auf diese Weise genetisch veränderten Zellen Anzeichen
für eine „Verjüngung“, für eine Umwandlung zur Stammzelle, zeigten.
Durchbruch gelang 2006
Nach zahlreichen Durchgängen hatten sie im Jahr 2006 schließlich
Erfolg: Sie stellten fest, dass nur vier einzelne Gene ausreichten, um eine
erwachsene, ausdifferenzierte Körperzelle wieder in eine Stammzelle zu
verwandeln. Wurden diese Gene zusammen in das Erbgut einer Bindegewebszelle
eingeschleust, teilte sie sich anschließend nicht mehr zu Bindegewebszellen,
sondern auch zu Nervenzellen oder Zellen der Darmschleimhaut. Die
eingeschleusten Gene sorgen dafür, dass die zuvor bei der Körperzelle
blockierten – weil nicht benötigten – Teile des Erbguts wieder abgelesen werden
konnten. Dadurch erhielt auch diese Zelle das Potenzial, wieder nahezu alle
Zelltypen hervorzubringen.
„Die Entdeckungen von Gurdon und Yamanaka haben damit unsere
Vorstellung über die Zellentwicklung und Spezialisierung vollkommen verändert“,
erklärt die Nobel-Stiftung in ihrer Erklärung zur Preisverleihung. Obwohl das
Erbgut im Laufe der Entwicklung Veränderungen durchmache, seien diese Änderungen
nicht irreversibel, wie einst angenommen. Das habe sowohl in der
Stammzell-Forschung als auch in der Medizin neue Perspektiven eröffnet.
Die Entdeckungen der beiden Forscher hätten Wissenschaftlern weltweit ermöglicht, bemerkenswerte medizinische Fortschritte voranzutreiben, begründete das Institut. Die Umprogrammierung von Zellen sei die Basis für ein besseres Verständnis von Krankheiten und für die Entwicklung von Diagnose- und Therapiemethoden.
Preisverleihung ist erst im Dezember
Im vergangenen Jahr hatten drei Wissenschaftler auf dem Gebiet des menschlichen Immunsystems den Preis zuerkannt bekommen.
Mit der Bekanntgabe des Medizin-Nobelpreises hat der diesjährige Reigen der Nobelpreise begonnen. Am Dienstag wird die Auszeichnung für herausragende Leistung in der Physik vergeben, am Mittwoch der Preis für Chemie. Am Donnerstag wird der Träger des Literaturnobelpreises bekanntgegeben, am Freitag der mit besonderer Spannung erwartete Träger des Friedensnobelpreises. Am Montag kommender Woche wird der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften gekürt. Die Preisverleihung erfolgt alljährlich am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel.
Aufgrund der Wirtschaftskrise ist jeder der renommierten Preise dieses Jahr nur mit acht statt mit zehn Millionen schwedischen Kronen (knapp 930.000 Euro) dotiert. (afp, dapd)