Toter Vater auf Schockfoto? Sieben Fakten zur EU-Tabakrichtlinie
Vor einem Jahr ist in Deutschland die EU-Tabakrichlinie in Kraft getreten
Sie sieht vor, dass neben Warnhinweisen auch Schockfotos abgebildet werden
Seither ist es schon mehrfach vorgekommen, dass Menschen tote Angehörige auf den Ekelbildern entdeckt haben wollen
Berlin.
Ein Gebiss mit schwarzen Stummelzähnen ist noch eins der harmloseren Bilder, die auf Zigarettenschachteln und Tabak-Verpackungen in Deutschland und anderen EU-Staaten prangen. Seit fast einem Jahr, seit dem 20. Mai 2016, gilt in Deutschland die EU-Richtlinie zu Tabakerzeugnissen, die neben schriftlichen Warnhinweisen auch Schockbilder auf den Verpackungen vorschreibt.
Eine geöffnete Lunge mit schwarzem Karzinom, ein Krebsgeschwür am Hals, verfaulte Gliedmaßen, kranke Kinder, todgeweihte Menschen, Leichen. Sie sollen Raucher von ihrer Sucht abbringen oder Menschen davon abhalten, mit dem Rauchen zu beginnen.
Doch die Bilder sind umstritten. Die Tabakindustrie bemängelte vor Einführung der Regelung, ihnen werde nicht genug Zeit für die Umstellung gegeben, einige Konzerne hatten vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt – vergeblich. Kritiker zweifeln zudem an der Wirksamkeit der Ekelbilder. Und: Mehrfach wollen Personen Verwandte oder verstorbene Angehörige auf den Fotos erkannt haben. Die Bilanz ein Jahr nach der Einführung der Schockbilder:
• Über welche Bilder gab es in der Vergangenheit Beschwerden?
Im Wesentlichen handelt es sich um zwei Schockfotos auf Zigarettenschachteln, die im vergangenen Jahr für Aufmerksamkeit gesorgt haben. Eines zeigt einen Mann, der offenbar bewusstlos in einem Krankenhausbett liegt. Ein Versorgungsschlauch steckt in seinem Mund. Das zweite Foto zeigt einen männlichen Toten, der offenbar im Leichenschauhaus liegt. Seine Augen sind abgedeckt, Nase, Mund und Kinn sind aber erkennbar.
Allerdings handelt es sich nur bei dem ersten Foto um eines der aktuellen Schockbilder der EU. Das zweite Foto prangte bereits im Jahr 2010 auf Zigarettenschachteln in Spanien. Dort warnen entsprechende Bilder schon länger als in Deutschland vor den Gefahren des Rauchens.
• Worum genau ging es bei den Beschwerden?
Über die Verwendung des Foto auf den spanischen Zigarettenschachteln hatten sich eine Frau und ihre Tochter bereits 2010 beschwert. Sie wollen darauf ihren nach einer Herzoperation gestorbenen Ehemann und Stiefvater wiedererkannt haben. Ihre Schadensersatzklage über 14 Millionen Euro wies der Europäische Gerichtshof wegen Mangel an Beweisen ab.
Gleich vier verschiedene Parteien wollen auf dem Krankenhaus-Foto einen Angehörigen oder sich selbst erkannt haben. In dem jüngsten Fall will die 42-jährige Jodi Charles aus Großbritannien ihren toten Vater David Ross auf der Zigarettenschachtel entdeckt haben. Ross war 2015 gestorben, nachdem er wegen einer Knochenmark-Krankheit, einer Sepsis sowie einer Blutkrebserkrankung im Krankenhaus intensivmedizinisch behandelt worden war, wie die britische „Sun“ Ende April berichtete.
Der Mann auf dem Bild scheint jedoch mehreren Personen stark zu ähneln. So zweifelte ein Mann aus Belgien nicht im geringsten daran, dass das Foto seinen im Koma liegenden Vater zeige, wie die belgische Zeitung „La Meuse“ im Juli 2016 berichtete. Ähnlich sicher, dass das Bild ihren Ehemann zeige, war auch eine Witwe aus Österreich, berichtete im vergangenen Sommer die österreichische Tageszeitung „Kurier“.
Noch schockierender war der Blick auf die Zigarettenschachtel offenbar für den Saarländer Harald Molter. Der 54-Jährige war im August 2016 absolut überzeugt, sich selbst auf dem Schockfoto entdeckt zu haben, berichtete die „Saarbrücker Zeitung“. Tatsächlich ist eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Molter und dem abgebildeten Mann nicht von der Hand zu weisen. Dennoch hat er sich wohl geirrt. Zu diesem Schluss kam laut eines Berichts der „Bild“ Molters Anwalt.
• Wie reagiert die EU-Kommission auf die Vorwürfe?
Die EU-Kommission hat bislang jegliche Vorwürfe dieser Art zurückgewiesen. In einer Frage-und-Antworten-Liste der Kommission heißt es, dass die Identität aller abgebildeten Personen bekannt sei. Allerdings könnten dazu keine Informationen herausgegeben werden, weil die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Personen geschützt werden müssten.
Alle abgebildeten Personen seien in Kenntnis gesetzt worden, dass ihre Fotos für die Kampagne genutzt werden, und hätten eine Einverständniserklärung unterschrieben, betont die EU-Kommission. „Jegliche Ähnlichkeiten zu Personen, die keine Nutzungserlaubnis erteilt haben, so unglücklich der Umstand auch sein mag, sind rein zufällig“, heißt es weiter.
• Wie viele verschiedene Schockbilder gibt es?
Insgesamt hat die EU-Kommission 42 Fotos ausgewählt. Diese sind in drei Gruppen mit je 14 Einzelbildern aufgeteilt, wie einer Delegiertenrichtlinie der EU-Kommission zu entnehmen ist. Jedes der Einzelbilder passt zu einer der 14 schriftlichen Warnungen, die auf Verpackungen von Tabakerzeugnissen abgedruckt werden müssen. Die Kombination aus Foto und Text muss 65 Prozent der Vorder- und Rückseite von Zigarettenschachteln und Tabakpackungen einnehmen, heißt es auf der Internetseite der EU-Kommission.
Erstellt wurden die Fotos von externen Dienstleistern. Die EU-Kommission hat dafür ein Budget von fast 600.000 Euro ausgegeben.
• Warum gibt es diese drei verschiedenen Foto-Gruppen?
Im ersten Jahr wurden lediglich die 14 Fotos aus der ersten Gruppe verwendet und abgedruckt. Im zweiten Jahr werden die Schockbilder aus der zweiten Gruppe auf den Zigarettenschachteln zu sehen sein, ab Mai 2018 dann die Fotos aus der dritten Gruppe.
Im Jahresrhythmus sollen künftig die Bilder ausgetauscht werden. So soll ein „Abnutzungseffekt“ verhindert werden, heißt es in den Fragen und Antworten der EU-Kommission. Die Tabakindustrie muss alle je 14 Fotos in gleicher Häufigkeit verwenden und darf sich nicht die vermeintlich harmloseren Bilder aussuchen. Sichergestellt werden muss diese Vorgabe durch die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten.
• Nach welchen Regeln werden die Fotos ausgewählt?
Die EU-Kommission hat jedes einzelne Foto aus je sechs Vorschlägen der externen Dienstleister ausgewählt. Der Europäische Rat und das EU-Parlament mussten der Auswahl zustimmen.
Die Wirksamkeit der Schockbilder wurden an 8000 Probanden aus Belgien, Deutschland, Dänemark, Spanien, Frankreich, Italien, Polen, Rumänien, Schweden und Großbritannien getestet. Anhand kognitiver Tests wurde so festgestellt, welche der vorgeschlagenen Bilder den meisten Ekel hervorrufen.
• Was weiß man über die Wirksamkeit der Schockbilder-Kampagne?
Dabei sind die Absatzzahlen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum direkt nach der Einführung der EU-Richtlinie stark gesunken, wie Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zeigen. Dies hänge allerdings nur mittelbar mit der Einführung der EU-Tabakrichtlinie zusammen, sagen die Statistiker. Denn in den ersten Monaten 2016 hatte es eine Vorratsproduktion von Tabakwaren und damit einhergehend einen erhöhten Absatz gegeben. Dementsprechend sei der Absatzrückgang lediglich ein Umkehreffekt.
Nichtraucherverbände wie der Verein Pro-Rauchfrei hingegen sagen, dass die Schockbilder die Menschen sehr wohl emotional erreichten. Ein Hinweis darauf sei etwa, dass der Absatz von Zigarettenetuis und verdeckenden Hüllen gestiegen sei. Zwar würden die Schockbilder Raucher nicht unbedingt von ihrer Sucht abbringen, auf Kinder, Jugendliche und junge Menschen, die noch nicht angefangen hätten zu rauchen, hätten die Bilder aber durchaus abschreckende Wirkung.
Wissenschaftler der University of Carolina haben zudem herausgefunden, dass mehr Tabakkonsumenten versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören, wenn auf den Schachteln nicht nur Warnhinweise, sondern auch Schockfotos abgebildet sind. An der vierwöchigen Studie hatten 2149 Raucher aus den US-Bundesstaaten Kalifornien und North Carolina teilgenommen.
Immerhin: Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) hat die Nachfrage nach klassischen Zigaretten tatsächlich nachgelassen. Im vergangenen Jahr wurden insgesamt rund 75 Milliarden Fertigzigaretten geraucht, 7,7 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Rund 920 Fertigzigaretten rauchte damit jeder Einwohner statistisch gesehen, etwa 100 weniger als 2012. (jkali/dpa)