Psychocoach Andreas Winter über bedauerliche Vorurteile gegenüber Spinnen und frühkindlich-unbewusste Not-Signale.
Iserlohn.
„Man reagiert danach nicht mehr, man entscheidet!“ Sagt Andreas Winter (50), seines Zeichens Psychocoach, der gerne mal auf eigene Faust die Wege verlässt, die seit Jahrhunderten von der „normalen“ Psychologie beschritten werden. Diesmal hat er sich für ein gerade erschienenes Buchprojekt, aber auch für seinen therapeutischen Ansatz das Thema „Ängste“ vorgenommen. Und dabei kommt er zunächst einmal zu einer ebenso schlichten wie hoffnungsfrohen Grunderkenntnis: „Wer sich von seinen Ängsten befreit, wird damit auch seine gesundheitlichen, beruflichen oder privaten Probleme los.“ So weit, so wünschenswert! Aber auch so einfach?
Herr Winter, wovor haben Sie Angst?
Ich persönlich habe keine Angst mehr, bin wohl angstfrei.
Und wenn ich jetzt mit der Brötchentüte knalle?
Ich unterscheide Angst von Schrecken.
Sie sagen, Sie hätten keine Angst „mehr“. Warum nicht?
Ich war der ängstlichste Junge, den Sie sich vorstellen können. Ich habe bis in meine späte Jugend vor allem Angst gehabt. Ich hatte Angst vor Lehrern, vor dem Versagen, ich habe den Mund nicht aufbekommen, war entsprechend schlecht in der Schule, hatte psychosomatische Krankheiten. Ich bin der Schule oft verprügelt worden, habe mich nicht gewehrt. Aber mit etwa 15 Jahren war es so, dass mir meine eigene Angst so furchtbar auf den Sender ging. Habe gedacht, das kann doch wohl nicht wahr sein. Was bist Du für ein ängstliches, armseliges Etwas?
Und Ihr Gegenmittel?
Ich habe mir selbst eine Konfrontationstherapie gebaut. Diesen Namen kannte ich allerdings damals noch gar nicht. Ich habe mich selbst in eine Situation gebracht, vor der ich mächtig Bammel hatte.
Ich bin gespannt.
Ich bin in einer windigen Vollmondnacht auf dem Campingplatz, auf dem ich mit meinen Eltern immer gewesen bin, nachts um halb Zwei raus zu einem abgebrannten Bauernhof, von dem jeder wusste, dass da so Penner-Typen hausen. Und ich wusste, dass ich da eigentlich nichts zu suchen habe. Zunächst einmal war das Haus völlig leer, doch dann sah ich einen Mann mit einem großen Hund auf das Haus zukommen. Die sind sogar reingekommen und mir ist fast das Herz stehengeblieben. Der Hund hat mich auch gesehen, ist aber weitergegangen und der Mann grummelnd hinterher.
Und was haben Sie gemacht?
Ich habe mich gezwungen, nicht in Panik raus zu rennen, sondern langsam schlendernd wieder nach Hause zu gehen. Und weil mir das als Erfahrung aber immer noch nicht gereicht hat, habe ich mir auch noch eingeredet, dass hinter der Tür meines eigenen kleinen Wohnwagens jetzt irgendein Zombie auf mich wartet. Natürlich hat mir mein Verstand in dem Moment gesagt, dass das Quatsch ist, aber die zuständige Gefühlsseite meines Gehirns hat sich doch für den Moment reizen lassen. Ob Sie es glauben oder nicht, das war das letzte Mal, dass ich so etwas wie Angst verspürte.
Und welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?
Dann habe ich – übrigens viel später als andere Kinder – die Geschichte der Gebrüder Grimm gelesen „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“. Der Typ hat ja keine Angst vorm Galgen oder vor Skeletten, weil er gar nicht weiß, was das bedeutet. Das hat mich zu dem Ansatz gebracht, der im Widerspruch zu dem steht, was an den Universitäten noch gelehrt wird. Da heißt es, der Mensch habe Angst vor dem Unbekannten. Aber selbst die Gebrüder Grimm sagen, dass wir gar keine Angst vor Unbekanntem haben können. Wie soll das gehen? Wir müssen die Dinge doch erst einmal in ihrem Schrecken erkannt haben.
Kurze Zwischenfrage: Sind Einzelgänger Angst-gefährdeter als Menschen, die in einer engen Gemeinschaftsbindung aufwachsen?
Nein, ganz. Im Gegenteil. Angst muss ja erst einmal durch etwas gemacht werden. Wenn sie als Galapagos-Schildkröte im Ei heranwachsen und die Eltern sind weg, dann macht ihnen auch keiner Angst. In der Gemeinschaft werden wir vielleicht getröst, aber die Gemeinschaft sorgt nicht dafür, dass unsere Angstmuster nicht aufkeimen.
„Die Brüder Grimm haben mich drauf gebracht“
Verbessern Sie mich! Es gibt eine Angst, die genetisch in uns sitzt, und eine, die ich lernen kann?
Das ist ja schon mal eine ganz spannende Frage: Woher kommen eigentlich archetypische Ängste? Die Urängste? Aber ich will doch erst noch einmal den Mechanismus der Angst erklären. Die Brüder Grimm haben mich drauf gebracht: Wir müssen irgendwas erfahren haben, um davor Angst zu kriegen. Nehmen wir das Beispiel „Spinnen“. Niemand hat von Geburt an Angst vor Spinnen. Das geht gar nicht, weil – Spinnen sind gar nicht gefährlich. Wir erlernen aber, dass ein Marienkäfer „süüüüß“ ist und eine Spinne „igitt“. Also ist die Spinne schon mal stigmatisiert. Das Schlimmste ist, dass die Spinne keine Flügel hat. Wenn wir sie sehen, ist sie also schön länger da, kontrolliert uns unbemerkt. Und das weckt in uns eben diese Angst vor Kontrollverlust. Das erleben wir von kleinster Kindheit an. Durch die Spinnen werden wir nur immer wieder daran erinnert, eigentlich hat sie selbst damit gar nichts zu tun. Sie ist nur ein Trigger.
Aber ist die Spinne nicht einfach auch nur ein Symbol für Ekel?
Ekel ist doch in der Regel auch nur erlernt. Viele von uns sagen, dass sie Käse lieben. Es gibt aber Milliarden Asiaten, die Herpesbläschen bekommen,wenn sie nur an Käse denken. Kinder ekeln sich vor Spinat, weil sie ihn aufessen sollen. Sie ekeln sich also vor der Bevormundung.
Aber Angst löst doch auch in jedem Fall aus einem Urinstinkt heraus in Krisensituationen eine Reaktion aus.
Ja, Angst ist in jedem Fall eine unreflektierte Reaktion auf eine empfundene Bedrohung. Aber an der Stelle wird es eben speziell: Wir haben ja immer Angst vor etwas, nicht in einer Situation. Nehmen wir die Wespe: Wir haben ja nicht Angst vor der Wespe, sondern vor dem Stich. Bei der nachgeburtlichen Untersuchung im Krankenhaus bekommen wir eine Blutentnahme aus der Kopf- oder Fußvene, das merkt sich das Kind. Heimgeburten haben interessanterweise keine Bienenphobie. Aber zurück zum Stich: Wenn wir ihn erst einmal haben, dann haben wir auch keine Angst mehr. Dann können wir ja reagieren. Die Angst vor dem Kontrollverlust ist die Mutter aller Ängste! Das heißt aber auch, dass unsere Ängste in einer Zeit entstehen, in der wir noch keine Kontrolle haben, also als kleine Kinder.
Ich kenne Ihre Theorie, dass viele, wenn nicht alle, Ängste ausgelöst werden können durch Stockungen im Geburtskanal. Aber ich tue mich schwer zu akzeptieren, dass alle Menschen, die vor irgendetwas Angst haben, zu lange und mit einem für sie ungewissen Ausgang in diesem Kanal waren. Es muss doch noch eine Möglichkeit geben, auch auf normalen Weg an Angst zu kommen?
Richtig! Und zwar mit der Nabelschnur. Man übersieht immer, dass mit der dritten Schwangerschaftswoche unsere neuronalen Zellen sich verschalten. Da nennt man diese Zellen noch nicht Gehirn, aber dann fangen wir aufgrund von Reizen an zu denken. Jetzt ist die Situation im Mutterbauch zunächst mal noch ziemlich reizarm. Es ist dunkel und warm. Sigmund Freud weiß, dass der Mensch den Unterschied braucht. Also kommt der Unterschied nur über die Nabelschnur zum Kind. Es bekommt alle Neurotransmitter der Mutter ab. Das sind sie Stoffe, die Gefühle erzeugen. Und das in einer Zeit, in der sich unser Gehirn bildet, in der wir denken: Okay, das ist also die Welt! Es sind die Hormone der Mutter, die die Gefühle des Kindes steuern. Wenn die neidisch, eifersüchtig, ängstlich ist, wenn sie Sorgen hat, das Kind am Ende durchzubringen, fühlt sich das Kind genau so.
„Kein Mensch braucht Angst“
Ich mag es ja gern einfach: Ich sitze nächtens mutterseelenallein im Büro, höre Schritte auf dem Flur und bekomme Angst. Von mir aus auch vor Kontrollverlust. Aber eben ganz konkret. Auf der anderen Seite habe ich vielleicht am nächsten Tag Angst, in drei Jahren meinen Job nicht mehr zu haben. Existenzangst. Oder Selbstzweifel? Gibt es da am Ende nicht doch Unterschiede?
Nein, unser Gehirn denkt. Unsere Gedanken haben Einfluss auf unser endokrinisches System. Es ist egal, ob Sie denken, Ihr Telefon klingelt oder ob es tatsächlich klingelt.
Aber bleiben wir mal bei dem Beispiel: Meine Sorge um den Arbeitsplatz habe ich am Ende auch einem Ruckeln im Geburtskanal oder depressiven Gedanken, die mir meine Mutter über die Nabelschnur übermittelt hat, zu verdanken?
Ja, der Ursprung ist möglicherweise so fremd vom Auslöser. Aber nehmen wir das Beispiel der Sorge um eine Arbeitslosigkeit. Es geht ja dabei in erster Linie um die Begleiterscheinungen: Nicht mehr versorgt zu sein, abhängig zu sein, sich nicht mehr entfalten zu können. Da müssen wir schauen, an was mich das Gefühl erinnert, wo hat man es schon einmal erlebt? Und da ist man schnell bei der Mutter, die vielleicht auch vor großen Problemen stand.
Aber ist denn nicht die Angst am Ende doch ein segensreicher Frühwarnmechanismus?
Nö, ganz im Gegenteil. Kein Mensch braucht Angst. Was wir brauchen, ist der Schrecken. Wenn der Säbelzahntiger kommt oder es knallt, dann müssen wir die Augen aufreißen und schauen, was lost ist.
Ich weiß nicht. Wenn ich auf einer hohen Mauer stehe und keine Angst hätte runterzufallen, würde ich unter Umständen zu nah an die Kante gehen und tatsächlich runtersegeln.
Angstfrei heißt ja nicht gleich leichtsinnig. Nur weil ich keine Angst vor Krokodilen habe, muss ich das Tier ja nicht hinterm Öhrchen streicheln. Ich bin ja nicht blöd. Angstfrei zu sein, heißt, frei in der Entscheidung zu sein. Angst raubt uns die Entscheidung.
Sie sagen aber auch, dass Angst ein ganz hervorragend funktionierendes Geschäftsmodell ist.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der es eine Angst-Industrie gibt. Man macht uns sehr, sehr viel Angst, um uns das Gegenmittel zu verkaufen. Versicherungen können zum Beispiel ein Gegenmittel zu einer vorher erzeugten Angst sein. Auch bei der Rüstung ist Angst ein lukratives Geschäft. Deshalb wird sie geschürt.
Wir reden von der zivilisierten Welt?
Genau, es gibt ja durchaus angstfreie Naturvölker. Bei denen ist zum Beispiel die Geburt ein völlig unspektakulärer Akt. Die geben ihren Kindern erst nach einem halben Jahr einen Namen, weil man nicht weiß, ob das Kind überhaupt überlebt. So cool können Menschen sein, wenn man sie Menschen sein lässt. Bei uns bekommen die Mütter durch allerlei Vorsorge-Instrumente die Angst schon vermittelt, bevor sie das Kind überhaupt haben.
Aber ist nicht die Therapie von Angst auch eine prima Geschäftsidee?
Natürlich, darum gibt es ja zu meinem neuen Buch auch noch eine CD, mit der man selbst Ängste auflösen kann. Ich sage: Wenn doch ein Trauma innerhalb weniger Momente entstehen kann durch eine emotionale Eindruckstiefe, dann kann doch auch die Therapie innerhalb von kürzester Zeit geschehen. Dann muss ich doch nicht ewig daran rumdoktern mit zwei Pfund Medikamenten. Ich muss den gleichen Knopf drücken wie das Trauma.
Sie sagen, am Ende braucht es nur drei Fragen, um die Angst zu lösen?
Genau. Erstens: Wovor genau hast Du Angst? Das geht nur mit einer Innenschau. Zweitens: Was genau ist denn wirklich das Schlimme an dem, was man fürchtet? Und drittens: Wofür lohnt es sich, das in Kauf zu nehmen?