Die heute 57-Jährige spricht selbst von einem Wunder. Ihr Flugzeug stürzte über den Regenwald Perus ab. Sie war schwer verletzt, aber sie überlebte. Elf Tage war sie im Urwald unterwegs, bevor sie gerettet wurde.
München.
Natürlich wird sie heute wieder an damals denken. An den Heiligen Abend vor 40 Jahren. Der Tag, „Als ich vom Himmel fiel“, wie sie es in ihrem gleichnamigen Buch nennt. Es klingt poetischer, als es war: Juliane Koepcke ist über dem Dschungel Perus aus 3000 Metern Höhe abgestürzt. Abgestürzt aus einem Flieger, den ein Blitz zerrissen hatte. Sie überlebt und wird nach elf Tagen gerettet.
Für die anderen 91 Passagiere von Flug 508 – darunter ihre Mutter – kommt jede Hilfe zu spät. „Deshalb habe ich auch lange nicht gewusst, ob ich mich freuen oder trauern soll“, sagt sie. „Aber mittlerweile kann ich Weihnachten wieder feiern.“
Unsichere Fluglinie
Klein und zierlich sieht die 57-Jährige aus, wie sie da so sitzt hinter ihrem Schreibtisch im Untergeschoss der Bibliothek der Zoologischen Staatssammlung München. Nicht viel anders als am Heiligen Abend 1971, als sie mit ihrer Mutter Maria in ein Flugzeug steigt, das sie zu ihrem Vater bringen soll. Von der peruanischen Hauptstadt Lima, nach Pucallpa im Amazonasgebiet, wo ihre Eltern eine Forschungsstation betreiben und Juliane immer wieder lebt.
Sie hätten schon einen Tag früher fliegen können. „Aber ich wollte unbedingt am 23. Dezember zum Abschlussball meiner Schule.“ Ihre Mutter lässt sich breitschlagen, obwohl sie am nächsten Tag nur einen Flug bei Lanas kriegen können. Ausgerechnet Lanas, die Fluglinie, vor der ihr Vater stets gewarnt hat. „Viel zu unsicher.“
20 Stunden Bewusstlosigkeit
Doch zunächst geht alles gut. Bis die Maschine eine Viertelstunde vor der Landung in eine Schlechtwetterfront gerät und abstürzt. Koepcke weiß noch, dass sie festgeschnallt in ihrem Sitz kopfüber der Erde entgegenrast. Und dass die Baumkronen, die immer näher kommen und wahrscheinlich ihren Fall gemildert haben, für sie „aussehen wie Brokkoli“. Dann wird sie ohnmächtig.
Als sie fast 20 Stunden später die Augen wieder aufschlägt, liegt sie auf dem Waldboden. Sie ruft, doch niemand antwortet. Die 17-Jährige ist alleine. Am Körper trägt sie nur ein dünnes Sommerkleid und eine Sandale. Sehen kann sie nur verschwommen. „Meine Brille war verschwunden.“
Eine Tüte Fruchtbonbons für elf Tage
Und sie ist verletzt. Lächerlich gering für einen Sturz aus einer solchen Höhe, aber viel zu schwer für einen Marsch durch den Dschungel. Juliane hat eine Gehirnerschütterung, offene Wunden am Rücken und an der Wade, ihr Schlüsselbein ist gebrochen, das Kreuzband im Knie gerissen. „Unmöglich, dass ein Mensch damit laufen kann“, haben Ärzte später gesagt. Juliane kann es, sie will es, sie muss es, denn: „Wenn du im Dschungel auf Hilfe wartest, dann stirbst du.“ Als sie Wasser plätschern hört, bricht sie auf. Es ist nur ein Rinnsal. Aber sie weiß von ihrem Vater: „Aus einem Rinnsaal wird ein Bach, aus einem Bach ein Fluss. Und wo ein Fluss ist, sind Menschen.“
Doch der Weg zu diesen Menschen ist sehr beschwerlich. Auch weil die junge Frau immer schwächer wird. Zu essen hat sie nur eine Tüte Fruchtbonbons, und selbst die ist bald leer. Vorsichtig tastet sie sich mit einem Stock durch das Wasser, immer auf der Hut vor giftigen Stachelrochen. Ein Schlag ihres Schwanzes wäre ihr Todesurteil. Überall summt, flattert und raschelt es. Kaimane und Schlangen gleiten vorbei, ihre Wunden sind längst von Maden befallen. Es regnet in Strömen. Und wenn es mal nicht regnet, fallen Schwärme von Stechmücken über die junge Frau her. Aber Juliane bleibt ruhig. „Ich habe den Dschungel nie als meinen Feind betrachtet.“
Trümmerteile liegen bis heute im Urwald
Nach elf Tagen ist sie mit ihren Kräften am Ende, lässt sich nur noch apathisch im Wasser treiben. Da entdeckt sie eine verlassene Hütte, in der sie Schutz sucht. Dort wird sie wenig später von Einheimischen gefunden und gerettet. Doch als sie zurückkehrt in die Zivilisation ist nichts mehr wie es war. Über Nacht ist Juliane Koepcke berühmt geworden. Es ist ein Ruhm, den sie nicht will. Sie will Ruhe, sie will ein normales Leben. Doch das kann sie in Peru nicht finden. Ihr Vater schickt sie zur Tante nach Deutschland. Dort macht sie Abitur, wird Zoologin.
Erst 30 Jahre später kehrt sie zurück. Der Regisseur Werner Herzog, der mit ihr einen Dokumentarfilm drehen will, hat sie überredet, noch einmal zur Absturzstelle zu kommen, wo bis heute über Kilometer verteilt, die Trümmer der Unglücksmaschine liegen. „Es war eine Art Therapie.“
Juliane Koepcke spricht von einem „Wunder“
Mehr noch. Als ihr Vater im Jahr 2000 stirbt, übernimmt seine Tochter von Deutschland aus die Leitung der Station. Ein bis zweimal im Jahr fliegt sie mit ihrem Mann seitdem nach Peru, um den Wald zu retten, der sie einst rettete.
Auch privat hat sie ihren Frieden gefunden. Penibel hat sie versucht, alle Umstände des Unglücks und ihrer Rettung zu klären. „Aber da bleibt ein Rest, der sich nicht klären lässt.“ Es sei denn, man glaubt an höhere Mächte. Juliane Koepcke lächelt und nickt ganz leicht. Sie sei nicht sehr gläubig erzogen worden, sagt sie. Und trotzdem: „Was mir damals passiert ist, das muss man wohl ein Wunder nennen.“