„Come quick, Danger!“ – Diesen Notruf sendete die Titanic vor hundert Jahren, kurz nachdem sie mit einem Eisberg kollidiert war. Ein junger Funker saß damals am Funkgerät in einer kleinen Station in Neufundland. Seine Nachfahren spielen eine wichtige Rolle bei den Gedenkfeiern.
Cape Race.
Es schien eine Nacht zu werden wie viele andere in der Telegrafenstation von Cape Race. Jimmy Myrick, ein 14 Jahre alter Funker-Lehrling, saß vor dem Empfangsgerät und sortierte Meldungen. Sein Chef war gerade in der Pause, und Jimmy hatte alle Hände voll zu tun. Auf dem Tisch stapelten sich belanglose Reisegrüße von Schiffspassagieren nach Hause. Routine also. Bis zum Untergang der Titanic. Vor 100 Jahren.
Um 22 Uhr 25 Uhr Ostküstenzeit wurde die Routine jäh unterbrochen. Myrick vernahm einen markanten Code: CQD. Es war das damals gängige maritime Notrufsignal, von Seeleuten gemeinhin gedeutet als „Come quick, danger“ – „kommt schnell, Gefahr“. Was war geschehen? Jimmy rannte aus seinem kleinen Holzschuppen ins Freie, um seine Vorgesetzten zu alarmieren. Es war die Nacht zum 15. April 1912.
Gut 600 Kilometer von der Telegrafenstation entfernt saß zu diesem Zeitpunkt Jack Phillips, einer der Funker der Titanic, in seiner Kabine und sendete verzweifelt Hilferufe nach draußen. Auch nach Cape Race.
Die Marconi-Station war ein strategisch wichtiger Ort
Die Marconi-Station an der Küste Neufundlands war damals ein strategisch wichtiger Ort. Hier gingen die drahtlosen Nachrichten aus Europa und von Passagierschiffen ein, bevor sie in die großen Städte Amerikas wie New York weitergegeben wurden.
Auch die Titanic war stets in Kontakt mit der Station. Schiffsfunker Phillip war so sehr mit Routinepost nach Cape Race befasst, dass er genervt auf die Eiswarnungen seiner Kollegen reagierte. „Halt’s Maul, ich bin beschäftigt. Ich arbeite an Post für Cape Race“, soll Phillips den Funker eines anderen Schiffs angeschnauzt haben.
Der erste Mensch, der von dem Unglück erfuhr
Kurz danach rammte die Titanic einen Eisberg, und es sollte weniger als drei Stunden dauern, bis sie in den Fluten des Nordatlantik versank und 1496 Menschen mit sich riss.
Jimmy Myrick, der junge Lehrling aus Cape Race, war der erste Mensch an Land, der von dem Unglück erfuhr. Jahrzehntelang verschwieg er dieses Detail, nicht zuletzt auf Geheiß seiner Vorgesetzten. Die Welt sollte nicht wissen, dass der Junge von den Verantwortlichen für einen Moment alleine gelassen wurde. Erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1990 erzählte Jimmy die Geschichte seiner Familie.
Titanic-Gedenkfeier organisiert
Hundert Jahre nach dem Ereignis sitzt wieder ein Myrick in der Funkstation von Cape Race und tippt flink auf einem Morsegerät herum. Es ist David Myrick, Jimmys Großneffe. David kennt die Geschichte jener Nacht aus vielen Erzählungen in der Familie und berichtet: „Nachdem Jimmy die Nachricht weitergegeben hatte, gab es große Aufregung in der Funkstation. Danach nahmen seine Vorgesetzten die Sache in die Hand, und die Nachricht vom Unglück der Titanic ging um die ganze Welt.“
David Myrick ist heute 73 Jahre alt, in Cape Race aufgewachsen und eine Hauptfigur bei den Titanic-Gedenkfeiern an diesem Wochenende. Das Morse-Alphabet kann er fließend seit er sieben Jahre alt ist. Gelernt hat er es von seinen Eltern, die noch bis 1955 am Kap lebten und arbeiteten. Danach zogen sie in die Großstadt, und Myrick heuerte beim Rundfunk an. Doch er sagt auch: „Ich habe diesen Ort nie wirklich verlassen. Er ist meine Heimat. „Über achthundert Mal war er in den letzten zehn Jahren hier. Im Sommer übernachtet er im Wohnmobil auf dem Kap.
Gedenkfeierzum Jahrestag
Cape Race ist ein Ort am Rande der Welt, am östlichsten Ende des Kontinents. Meist weht ein eisiger Wind über das Plateau und Wellen zerbersten an den Felsen. Möwen kämpfen gegen die Böen. Nur über einen 20 Kilometer langen Schotterweg kommt man überhaupt hierher. Es hat ein paar kleine Fischerhütten, ein Häuschen, Holzschuppen und ein Leuchtturm. Bis 2007 wurde er von der Familie Myrick betrieben. Die Funkstation selbst brannte kurz dem Titanic-Unglück nieder und wurde originalgetreu wieder aufgebaut.
Heute beherbergt das rote Holzgebäude ein kleines Museum, eine Funkstation für Amateure und ist pünktlich zum Jubiläum frisch gestrichen worden. An den Wänden hängen ein paar alte Telefone und Morsegeräte. Im Garten steht eine hohe Antenne. Bei den geplanten Gedenkfeiern zum Jahrestag der Titanic-Katastrophe spielt es eine zentrale Rolle – und David Myrick ist Hauptakteur.
Mit den Nachkommen der Opfer funken
Auf die Minute genau einhundert Jahre nach dem Untergang der Titanic wird David Myrick wie einst sein Großneffe in der kleinen Kabine sitzen. In der Nacht zum 15. April 2012 wird er auf Signale vom draußen vom Atlantik warten und diese an Hobby-Funker rund um den Globus weiterreichen. „Wir wollen den Original-Funkverkehr aus jener Nacht simulieren und damit den Opfern der Tragödie gedenken“, berichtet Myrick. Fernsehsender aus aller Welt sind live mit dabei.
Myrick und seine Kollegen wollen dabei auch mit Nachkommen der Opfer funken und Kreuzfahrtschiffe wie die „MS Balmoral“ kontaktieren. Der ausverkaufte Luxusliner will in der Nacht zum 15. April exakt an jener Stelle halt machen, an der die Titanic hundert Jahre zuvor gesunken war. Eine Auflage allerdings haben alle Beteiligten bekommen. Das heute geltende „SOS“-Notrufsignal muss tabu bleiben, um keine Verwirrung zu stiften. Es war übrigens ausgerechnet die Titanic, die den SOS-Code neben dem CQD-Signal zum ersten Mal verwendet hatte – Minuten bevor sie sank.