Immer mehr Grundschüler in NRW lernen Schreiben nach Gehör. Doch viele Eltern klagen über Rechtschreib-Schwächen ihrer Kinder. Auch unter Experten ist der Ansatz umstritten. Vor allem für Migranten-Kinder gilt er als Risiko.
Essen.
Valerie darf schreiben, was sie will. Wörter, Sätze, kleine Geschichten – alles kritzelt sie so hin, wie sie es hört und spricht. Ihre Texte wimmeln von Fehlern, doch die Lehrerin korrigiert sie nicht. Valerie geht in die zweite Klasse einer Wuppertaler Grundschule, aber Rechtschreib-Regeln hat sie bisher nicht gelernt.
Auch die Eltern sollen die Achtjährige nicht verbessern. Damit würden sie nur ihre Schreiblust hemmen, hat die Lehrerin gesagt. Doch Mutter Ute Gottschalk widersetzt sich neuerdings ihrer Anweisung. „Ich mache dieses Theater nicht mehr mit“, sagt sie. Denn das alles hat sie schon einmal erlebt – mit fatalen Folgen.
Böses Erwachen im Gymnasium
Bei Tochter Viviane hat sie es noch geschehen lassen, dass sie in den ersten Klassen zwar viel, aber falsch schrieb. Das böse Erwachen kam für Gottschalks ältere Tochter beim Sprung aufs Gymnasium. „Da wurden plötzlich Anforderungen an ihre Rechtschreibung gestellt, denen sie absolut nicht gewachsen war“, erinnert sich die Mutter. Ute Gottschalk musste nachmittags mit Viviane das nachholen, was man ihr in der Grundschule nicht beigebracht hatte: eine fehlerfreie Rechtschreibung.
Die Kinder von Ute Gottschalk haben nach einer Methode gelernt, die inzwischen an Grundschulen in NRW weit verbreitet ist: „Lesen durch Schreiben“ heißt sie, entwickelt vom Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen. Dahinter steht die Idee, dass Kinder schnell vollständige Sätze und Texte schreiben können und damit ihre Lust an der Sprache geweckt wird – ohne sie gleich durch Regeln im Keim zu ersticken. Seit Mitte der 90er setzt sich das Programm Stück für Stück an deutschen Schulen durch. Manchmal sind es auch nur einzelne Lehrer, die darauf schwören.
„Viele Eltern machen sich Sorgen“
Die Schüler lernen nicht mehr Buchstabe für Buchstabe aus der Fibel, sondern schreiben zunächst völlig frei nach Gehör. Dabei helfen soll ihnen die sogenannte Anlauttabelle. Ein Wort wird in Laute unterteilt, die Schüler suchen sich die ihnen passend erscheinenden Buchstaben aus der bebilderten Tabelle zusammen: A wie Ameise etwa, oder B wie Banane. Sie schreiben Sätze wie „Die Bollitzei isst da“, aber die Lehrerin lässt sie gewähren. Denn die korrekte Rechtschreibung gibt’s erst hinterher, zumeist ab der dritten Klasse.
Doch die Begeisterung der Lehrer kommt bei den Eltern nicht unbedingt an. „Viele sind völlig verwirrt“, sagt Birgit Völxen von der Landeselternschaft der Grundschulen in NRW. „Sie machen sich große Sorgen, dass die Kinder die Umstellung auf die richtige Rechtschreibung nicht schaffen.“ Eine Sorge, die von wissenschaftlichen Studien untermauert wird. „Mehrere Untersuchungen belegen, dass die Methode ‚Lesen durch Schreiben’ einen höheren Anteil von Schülern mit Rechtschreib-Schwächen produziert“, sagt Renate Valtin, Professorin für Grundschulpädagogik und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben.
Risiko für Migranten-Kinder
Ein Risiko sei die Unterrichtsmethode vor allem für all jene Kinder, die über keine lautklare Aussprache verfügten, sagt Valtin. Kinder aus Migranten-Familien oder mit Dialekt-Einfärbung hätten daher große Schwierigkeiten mit dem „Schreiben nach Gehör“. Christa Röber, Professorin für Grundschulpädagogik an der Universität Freiburg, geht sogar noch einen Schritt weiter: „Dieses Lern-Programm ist nur etwas für Kinder, die zu Hause zusätzlich gefördert werden. Alle anderen werden dadurch benachteiligt.“
„Kinder müssen ein soziales Umfeld haben, in dem richtig Deutsch gesprochen wird“, bestätigt auch Völxen. Das sei die Grundvoraussetzung dafür, dass „Lernen durch Schreiben“ funktioniert. Es sei daher wichtig, dass die Lehrer mit den Eltern über ihre Sorgen offen sprechen und bei Schwierigkeiten frühzeitig eingreifen würden. Einige Lehrer würden den Ansatz auch nicht in Reinform anwenden, sondern ihn mit anderen Methoden kombinieren.
Experten beklagen fehlende wissenschaftliche Grundlage
Auch der Philologenverband NRW ist skeptisch. So mancher Lehrer an weiterführenden Schulen würde die Grundschul-Kollegen verfluchen, sagt Peter Silbernagel. Es sei schwer, Rechtschreib-Fehler auszumerzen, wenn sie sich erst festgesetzt hätten. „Kindgerechte und kreative Lernmethoden sind gut und schön. Doch bei all dem dürfen wir die Qualitätsstandards nicht aus den Augen verlieren“, mahnt Silbernagel. Die Grundschulen würden immer wieder von Moden heimgesucht. „Die Lehrer müssen genau wissen, was sie tun. Hinterher fragt niemand nach der Lernmethode. Die Rechtschreibung muss im Job und an den Universitäten einfach sitzen.“
Pädagogik-Experten beklagen zudem, dass dem Konzept von Jürgen Reichen jegliche wissenschaftliche Grundlage fehle. „Diese Methode ignoriert alle Erkenntnisse über den Schriftspracherwerb“, sagt Valtin. „Für die Kinder sind Wörter noch identisch mit Gegenständen. Sie haben in dem Alter große Schwierigkeiten, sich auf einzelne Laute zu konzentrieren.“ Auch Pädagogik-Professorin Röber beklagt, dass der Ansatz von falschen Annahmen ausgehe. So könnten Kinder etwa keine Kurzvokale wahrnehmen, dies lernten sie erst über das korrekt geschriebene Wort. „Untersuchungen haben gezeigt, dass nur 0,3 Prozent der Kinder beim Eintritt in die Grundschule den Kurzvokal ‚i’ im Wort Fisch oder das ‚u’ im Wort Hund hören konnten.“
Wissenslücken der Lehramtsstudenten
Warum viele Pädagogen dennoch auf den Ansatz zurückgreifen, erklärt Röber auch mit der weit verbreitenden Auffassung, Grundschülern zunächst einmal freien Lauf zu lassen, um ihnen den Spaß am Lernen nicht zu verderben. Doch das sei völliger Quatsch: „Kinder lernen gerne über Regeln und das brauchen sie auch.“ Ein Teil des Problems sieht Röber zudem bei den Lehrern selbst: „Viele Lehramtsstudenten wissen wenig über Grammatik und Orthografie. Diese Lücken können wir an der Hochschule in sechs Semestern Grundschulpädagogik nicht mehr schließen.“