Laut einer Studie gelten nicht mehr nur Autos und Fabriken als Klimakiller, sondern auch Kinder. Forscher haben provokative Vorschläge.
Berlin.
Wer es mit dem Klimawandel ernst meint, muss seinen Lebenswandel überdenken: Sollte ich alte Glühbirnen austauschen? Sollte ich lieber mit dem Rad fahren? Sollte ich überhaupt Kinder bekommen? Ja, richtig gelesen. Eine neue Studie zum Klimaschutz empfiehlt, dass Menschen in Europa, Amerika und Australien ein Kind weniger bekommen sollten.
Die Forscher Kimberly A. Nicholas und Seth Wynes argumentieren, dass nichts den Klimawandel so sehr beeinflusst wie eine Überbevölkerung der Welt. Die Wissenschaftler aus Schweden und Kanada haben noch weitere Vorschläge für den Klimaschutz identifiziert und berechnet, wie viel Klimagas CO2 durch die jeweiligen Maßnahmen eingespart werden könnte:
• Ein Kind weniger zeugen spart 58,6 Tonnen CO2 pro Jahr pro Kopf ein.
• Auto-frei leben spart 2,4 Tonnen CO2 pro Jahr pro Kopf ein.
• Einen Transatlantikflug weniger spart 1,6 Tonnen CO2 pro Jahr pro Kopf ein.
• Eine vegetarische Ernährung spart 0,82 Tonnen CO2 pro Person im Jahr ein.
Doch dass ein Politiker den Verzicht auf Kinder in Deutschland fordern wird, ist kaum denkbar. „Als politische Forderung ist das schlicht absurd. Die Entscheidung für Kinder ist Privatsache, da hat sich der Staat herauszuhalten.“, sagt Cem Özdemir, Spitzenkandidat von Bündnis90/Die Grünen zur Bundestagswahl, unserer Redaktion. Ganz im Gegenteil sei eine Gesellschaft möglich, in der alle am Wohlstand beteiligt seien, und in der jede und jeder eine Chance bekomme, selbstbestimmt die eigenen Ziele zu verfolgen.
„Wichtig ist, dass die Menschen insgesamt ressourcenschonender leben“, so Özdemir. Als Beispiele nennt der Politiker die Nutzung erneuerbarer Energien und ein Ende der industriellen Massentierhaltung. „Ich kämpfe dafür, die industrielle Massentierhaltung über die nächsten 20 Jahre abzuschaffen“, ergänzt der Grünen-Spitzenkandidat.
EU bewirbt fleischlose Ernährung
Vor dem Hintergrund dieser deutlichen Kritik an der Studie, ist verständlich, dass sich die Ziele in kaum einem Regierungsprogramm wiederfinden. Lediglich die EU plädiere laut den Forschern für einen Verzicht auf tierische Nahrung. Die EU-Kommission setze sich zwar für gesunde und klimafreundliche Ernährung ein, eine Sprecherin stellt aber gegenüber unserer Redaktion klar: „Die Regulierung von Fleischkonsum fällt nicht unter EU-Kompetenz“.
Die Forscher rechnen vor, wie viel effektiver vegetarische Ernährung im Vergleich zu anderen Klimaschutz-Aktionen ist. Fleischlose Ernährung verhindert vier Mal mehr CO2 als konsequentes Recycling und acht Mal mehr als die Nutzung neuer Glühbirnen. Provokative Vorschläge wie der Verzicht auf Kinder findet sich jedoch weder in Plänen der EU, geschweige denn Regierungserklärungen in Deutschland. Von diesem Vorschlag distanziert sich gegenüber unserer Redaktion auch die EU-Kommission. Die Familienplanung sei kein Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union.
Doch die Forscher werden für ihre Vorschläge durchaus kritisiert. Der Geobiologe Reinhold Leinfelder hat auf Facebook deutliche Worte für die Studie gefunden. Er fragte sich sogar, warum das Wissenschaftsmagazin „Science“ einen Bericht zu der Studie veröffentlich hatte. Leinfelders wichtigstes Argument: die Überbevölkerung als Hauptgrund für den Klimawandel auszuweisen, sei ein Alibi, sich nicht um andere Gründe zu kümmern.
Tatsächlich scheint die Studie von Kimberly A. Nicholas und Seth Wynes an einigen Stellen unsauber. Das gilt vor allem für den zeitlichen Rahmen der Effekte. Auf der einen Seite geht es um den einmaligen Verzicht auf einen Flug, auf der anderen Seite um einen lebenslangen Kinderverzicht. Die Forscher verweisen auch auf die Effekte des Umstieges auf ein Elektroauto. Doch genau der Effekt dieses Umstieges ist umstritten. Das schwedische Umweltministerium hat zuletzt vorgerechnet, dass die Produktion von Akkus für Elektroautos so umweltschädlich ist, dass die Fahrzeuge erst nach achtjährigem Gebrauch sauberer sind als ein vergleichbares Fahrzeug mit Benzin-Motor.
Grünen-Politiker Cem Özdemir sieht einen kompletten Verzicht auf Autos kritisch. „Das Auto wird Bestandteil unserer Mobilität bleiben“, sagt Özdemir unserer Redaktion. Die Grünen setzen sich dennoch für den Ausbau von Radschnellwegen und eine veränderte Nutzung des Autos ein. „Wir Grünen wollen, dass es zukünftig mit erneuerbarer Energie, leise, sicher und emissionsfrei fährt – unabhängig von Benzin oder Diesel“, so Özdemir. Ziel müsse unter anderem sein, dass Autos wie heute nicht den Großteil des Tages herumstehen, sondern geteilt würden.
Das Bundesumweltministerium hält eine Abkehr vom Auto ebenfalls für unwahrscheinlich. „Die Forderung ist unrealistisch und auch unnötig“, heißt es gegenüber unserer Redaktion. Durch den Einsatz erneuerbarer Energien ließe sich auch der Autoverkehr klimafreundlich gestalten. Das Umweltministerium weist in Bezug auf die neue Studie darauf hin, dass die Forscher wohl mit dem aktuellen Treibhauseffekt rechnen würden. Würden geplante Maßnahmen zum Klimaschutz jedoch umgesetzt, müsste mit ganz anderen Werten gerechnet.
Effekte des Klimawandels vielfach belegt
Die Effekte des Klimawandels sind jedoch nicht so umstritten wie die Studie. Sowohl schmelzende Eisflächen wie auch extreme Wettersituationen sind Folgen des Klimawandels. Aktuell wird diskutiert, ob das Abbrechen eines Eisberges in der Westantarktis eine Folge des Klimawandels ist. Die „Berliner Morgenpost“ hat zur Veranschaulichung eine interaktive Karte zum Abbruch erstellt.