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Hamas in Israel: Rabbiner und Imam mit dringender Nachricht – „Wichtig, dass Muslime jetzt aufstehen“

Ein Imam und ein Rabbiner im Gespräch. Ihr Appell nach den Terror-Attacken der Hamas könnte eindeutiger nicht sein.

Imam Rabbi
© IMAGO / Niklas Scheuble

Imam und Rabbiner zeigen sich über den Krieg in Israel bestürzt

Terroristen der islamistischen Hamas haben Israel überfallen und zahlreiche Zivilisten ermordet. Mit ihrem Angriff sorgen sie für unsägliches Leid. Auch in der eigenen Bevölkerung. Der Rabbiner Elias Dray und der Imam Ender Cetin zeigen sich im Interview mit "Der Westen" bestürzt.

Elias Dray ist Rabbiner. Ender Cetin ist Imam. Dray lebt nach den Regeln des Judentums, Cetin nach den Regeln des Islams. So unterschiedlich ihr Glaube ist, so vereint sind sie in ihrem Streben nach Frieden. In dem Wunsch, Juden und Muslime in Deutschland zusammenzubringen. Mit Sorge blicken die beiden Geistlichen nach den Terror-Anschlägen in Israel in den Nahen Osten.

In einem Doppel-Interview ordnen Dray (46) und Cetin (47) die Situation auf Neuköllns Straßen und die drohenden Auswirkungen auf unsere Gesellschaft ein – und richten einen Appell an alle in Deutschland lebenden Muslime und Juden.

Seit Samstagmorgen herrscht Krieg in Israel. Am Montag ist bereits die Rede von über 1.000 Todesopfern. Was ging Ihnen am Samstagmorgen durch den Kopf, als Sie von den terroristischen Angriffen auf Israel gehört haben?

Elias Dray: Wir hatten am Samstag einen Feiertag, erst mittags habe ich davon gehört. Wir hatten keine Handys bei uns, aber Sicherheitsleute erzählten uns, dass es einen schlimmen Vorfall gab. Erst am Sonntag haben wir mehr gehört. Wir hatten ein Thora-Freudenfest und es war sehr schwierig, damit umzugehen. Zwischen Weinen und Feiertag. Erst als ich Sonntagabend die Nachrichten und auch das wirkliche Ausmaß sehen konnte, ist mir klargeworden, was passiert ist. Wie schockierend das war, das kann ich gar nicht beschreiben. Die ganzen Geiseln. Ich befinde mich in einem absoluten Schockzustand.

Ender Cetin: Das alles ist sehr bestürzend für uns. Vor allem, weil ich und andere Muslime ja auch im Dialog mit unseren jüdischen Mitmenschen stehen. Zum Beispiel bei unserem Projekt „Meet2Respekt“ (Anm. d. Redaktion: „Meet2Respekt“ ist ein gemeinnütziges Projekt, das Begegnungen und Unterrichtsbesuche von Imamen und Rabbinern organisiert). Aber auch privat. Es bestürzt uns immer wieder, wenn Juden angegriffen werden. In diesem Fall ist das auch ein Rückschlag. Wir bemühen uns, weil wir miteinander in Frieden leben wollen. Und genau solche Angriffe oder Demonstrationen, wie beispielsweise in Neukölln, sind für uns immer wieder ein herber Rückschlag.

++ Alle Informationen zum Krieg in Israel findest du in unserem Newsblog ++

Wer die deutsche Staatsräson Israel nicht anerkennt, hat in Deutschland nichts zu suchen. Das machte auch Cem Özdemir am Sonntagabend bei „Anne Will“ nochmal ganz deutlich. Wie sehen Sie das?

Ender Cetin: Ich verstehe das. Aber natürlich können wir so nicht mit palästinensischen Menschen sprechen, denn da ist eine andere Sensibilität nötig, um sie auch zu erreichen. Das heißt: mit diesem harten Satz erreichen wir keine Herzen. Wir müssen sensibler sein. Es fängt schon beim ABC an: Islam und Judentum, Muslime und Juden, Israelis und Palästinenser. Die Begegnung ist hier sehr wichtig, damit die ganzen Vorurteile, die Mauern in den Köpfen, erst einmal gebrochen werden können. Und danach kann man diese Sätze unterstreichen.

Elias Dray: Für mich ist das natürlich klar. Es ist wichtig, dass wir überall auf der Welt Unterstützung bekommen, wenn es Terrorismus gibt. Hier auch ein Zeichen gesetzt wird und klar ist, dass eine Grenze überschritten wurde. Da müssen wir gemeinsam dagegen stehen.

Es gibt auch hier Gruppen, die sich – wie beispielsweise am Samstag in Neukölln – hinstellen und den Terror-Angriff auf Israel ganz offen auf deutschen Straßen feiern. Was denken Sie, wenn Sie solche Bilder sehen? Kann man hier überhaupt noch was machen? Gibt es noch Mittel und Wege, um diese Menschen zu erreichen?

Ender Cetin: Man kann diese Gruppen erreichen. Man braucht aber viel mehr Sprachrohre unter den Muslimen, aus der eigenen Community, die hier versuchen, zu vermitteln. Und eine andere Perspektive aufzeigen. Aus sozialen Medien bekommen Jugendliche oft nur eine Seite mit. Auch, wenn es sehr viel an Ungerechtigkeit gibt: Nichts kann das rechtfertigen, was am Samstag passiert ist. Nichts. Für uns ist das eine Schande, wenn Leute es feiern, dass Menschen sterben oder als Geiseln genommen werden. Aber dennoch müssen wir diese Menschen erreichen – und das wird nur funktionieren, wenn wir aufarbeiten, was im Nahen Osten passiert ist. Mit dem Ziel, einen gemeinsamen Nenner zu finden.

Imam Rabbi
Rabbiner Elias Dray und Imam Ender Cetin. Foto: IMAGO / Niklas Scheuble

Sie haben gerade gesagt, dass es keine Rechtfertigung für die schrecklichen Taten gibt. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland sprach am Sonntag von einer „Gewaltspirale“. Und forderte beide Seiten dazu auf, die Gewalt einzustellen. Was sagen Sie hierzu?

Elias Dray: Es gab immer Konflikte. Aber jetzt müssen wir einfach auch sagen, dass das ein schlimmer Terror-Akt war. Die Terroristen sind über die Grenze gegangen, es wurden über 1.000 Menschen ermordet, Geiseln genommen. Nichts kann das rechtfertigen. Wie jedes Land, wie auch die Ukraine zum Beispiel, muss Israel sich jetzt um seine Sicherheit kümmern. Und ich hoffe nicht, dass es dann wieder heißt, das sei eine Spirale. Israel muss sich jetzt um die Sicherheit seiner Bürger sorgen, das würde Deutschland genauso tun. Israel muss sich jetzt verteidigen und dieses Recht muss man Israel auch geben.

Ender Cetin: Jeder andere Staat würde sich auch verteidigen. Die Gewaltspirale gab es vorher auch. Jetzt ist aber die Zeit, über die Anschläge zu sprechen – und nicht über den allgemeinen Konflikt. Darüber sprechen wir sowieso andauernd. Aber wenn so etwas, in diesem Ausmaß, passiert, müssen wir Muslime sagen, dass wir das nicht vertreten können. Das geht einfach nicht. Ich als Muslim habe aber die Sorge, dass viele zivile Menschen, auch in diesem Moment, umkommen. Menschen, die nichts mit diesem Konflikt zu tun haben. Und ich bete dafür, dass auch die israelische Seite keinen unschuldigen Menschen in Gaza Leid zufügt. Sondern versucht wird, so gut es geht, zu trennen – zwischen Terroristen und Unschuldigen.

Um nochmal auf Neukölln zurückzukommen. Haben Sie die Sorge, dass der feiernde Mob der AfD in die Karten spielen wird?

Ender Cetin: Man darf nicht verschweigen, dass es unter vielen Muslimen einen auf Israel bezogenen Antisemitismus gibt. Da müssen wir als Muslime, die eine andere Perspektive einnehmen, empowered werden. Ich glaube, dass vor allem diese Stimmen in der Öffentlichkeit gehört werden sollten. Leider werden aber in erster Linie die negativen Bilder gezeigt. Deutschland befindet sich im Rechtsruck und ich denke schon, dass das der AfD in die Hände spielt. Ich muss mir auch Sorgen machen, dass ich als Muslim automatisch als Antisemit gelten könnte.

++ Barbarische Videos aus Israel – sie schmerzen, aber wir müssen sie ertragen ++

Elias Dray: Ich rufe Muslime auf, von solchen Demonstrationen fernzubleiben. Weil sie uns als demokratische Gesellschaft schwächen. Wir wollen ein freies Land, in dem jeder seine Religion leben kann. Wir wollen keine starke AfD haben. Solche Aktionen wie in Neukölln sind sehr gefährlich und jeder Muslim, der hier leben will, sollte sich so weit wie möglich von diesen Demonstrationen oder Feiern distanzieren. Für sich selbst – und auch, um zu verstehen, dass so etwas nichts bringt, sondern die Gesellschaft so nur noch mehr in die Extreme führt.

Ender Cetin: Das ist vielleicht nur ein Traum, aber ich würde mir schon Demonstrationen wünschen. Aber solche, in denen wir die israelische und die palästinensische Flagge friedlich nebeneinander sehen würden. Ich bin fest davon überzeugt, dass das irgendwann möglich sein wird.

Was denken Sie, muss passieren, damit dieser Traum in Erfüllung geht? Sie beide besuchen Schulen, klären Schüler auf, setzen sich jeden Tag für das Miteinander von Juden und Muslimen in Deutschland ein. Aber was können wir alle, was kann jeder Bürger tun, um den Zusammenhalt zu stärken?

Ender Cetin: Ich glaube, radikale Sprüche wären aktuell nicht hilfreich – auf beiden Seiten. Es ist nicht die Zeit für radikale Sichtweisen. Im Gegenteil. Wir müssen jetzt sensibel sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein normaler Mensch sagt, es ist okay, dass unschuldige Menschen, Kinder und Frauen sterben. Es liegt in unserer Verantwortung, in unserem Umfeld darüber zu sprechen, ohne in die Extreme abzurutschen. Aufeinander zugehen bedeutet auch, die Worte weise zu wählen. Auf Augenhöhe zu kommunizieren, ohne überheblich oder eitel zu sein.

Elias Dray: Es ist ganz wichtig, dass wir diese Gewalt alle verurteilen. Es ist wichtig, dass Muslime aufstehen und sagen, dass das nicht in ihrem Namen passiert ist. Und den Terrorismus verurteilen, Solidarität mit Israel zeigen. Denn dann können wir eine Differenzierung machen, die die Möglichkeit für den Dialog bietet.



Welchen Appell würden sie an die Juden und Muslime in Deutschland richten?

Elias Dray: Es ist jetzt sehr wichtig, dass wir ins Gespräch kommen. Nicht nur in den Schulen, es sollte überall passieren. Medienberichte reichen nicht. Es braucht Sozialarbeiter, wir müssen weiter darüber sprechen.

Ender Cetin: Viele Muslime, mit denen ich spreche – gerade auch Jugendliche – haben das Gefühl, dass Palästinenser ungerecht behandelt werden. Und es ist auch so. Es gibt Ungerechtigkeiten und die muss man benennen. Aber es ist für Muslime wichtig, sich gegen jede Art der Ungerechtigkeit zu stellen und friedenstiftende Wörter zu verwenden, statt Hass zu säen. Denn das würde immer wieder dazu führen, dass solche Anschläge passieren. Und auf beiden Seiten unschuldige Menschen sterben. Mein Appell ist es, immer wieder zu betonen, dass die Religion auch „Frieden“ heißt. Der Schöpfer ruft uns dazu auf, allesamt in den Frieden einzutreten – und das geht nicht, wenn wir Gewalt durch unsere Sprüche anheizen. Sondern nur, wenn wir das Feuer jetzt mit Wasser löschen.