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Oskar Lafontaine rechnet mit Scholz ab: „Wir haben die dümmste Regierung Europas“

Oskar Lafontaine teilt in seinem neuen Buch aus. Auch im Interview mit unserer Redaktion hält er sich nicht zurück.

Lafontaine und der Ukraine-Krieg.
© IMAGO / BeckerBredel, IMAGO / Panthermedia

Oskar Lafontaine tritt aus der Linkspartei aus

Es ist das Ende eines langen Streits: Lafontaine bricht mit der Linkspartei, die er vor rund 15 Jahren mitgegründet hat. Zudem beendet er seine politische Karriere.

Er war Bundesfinanzminister, Ministerpräsident des Saarlandes und Vorsitzender von gleich zwei Parteien, der SPD und der Linkspartei: Oskar Lafontaine. Der 79-Jährige ist einer der streitbarsten Politiker der Bundesrepublik.

Zuletzt sorgte sein Austritt aus der Partei Die Linke für Schlagzeilen. Es gibt immer wieder Spekulationen darüber, dass Lafontaines Ehefrau Sahra Wagenknecht eine neue Partei gründen könnte. Lafontaine selber schaltet sich im November mit einem neuen Buch in die Debatte rund um den Ukraine-Krieg ein. Der provokante Titel der Streitschrift: „Ami, it’s time to go! Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“ (Westend-Verlag, 48 Seiten, 12 Euro).

Interview: Was hätten Sie als Kanzler anders gemacht, Herr Lafontaine?

Unsere Redaktion hat mit Oskar Lafontaine über seine Ansichten zum Ukraine-Krieg gesprochen. Aber auch darüber, wieso er sich so barsch ausdrückt und ob er sich in dieser Lage seinen Rivalen Gerhard Schröder zurück wünscht.

Herr Lafontaine, was hätten Sie als Bundeskanzler nach dem 24. Februar, dem Tag des Überfalls Putin auf die Ukraine, anders gemacht?
 
Lafontaine: Ich hätte mich zunächst mit den Partnern in Europa und auch den USA verständigt. Ich hätte darüber nachgedacht, welche Sanktionen man ergreifen soll. Aber ich hätte auch klargestellt:  Es dürfen keine Sanktionen sein, die die Bevölkerung treffen, insbesondere nicht die eigene. Das hatte Scholz anfangs auch so gesehen. Er wollte sich dafür einsetzen, dass Sanktionen kommen, die nicht in erster Linie die eigene Bevölkerung treffen. Aber genau das ist geschehen. Auf keinen Fall hätte ich, aufgrund der deutschen Geschichte, Waffen geliefert. Zumal ich wusste, dass die Amerikaner seit vielen Jahren die Ukraine aufgerüstet haben und ohnehin ständig neue Waffen liefern.

Sie hätten zuerst mit den Bündnispartnern gesprochen, ziehen jedoch gleichzeitig schon vorher rote Linien bei Waffenlieferungen?
 
Man muss sehen, dass es immer noch Möglichkeiten gab zu verhandeln. Das Hauptproblem war, dass die Amerikaner die Forderung Russlands, vor dem Einmarsch der russischen Armee, brüsk ablehnten, keine Militäreinrichtungen der USA an der Grenze zu Russland zu installieren. Insofern war die Situation schwierig. Hier wäre der Bundeskanzler gefragt gewesen. Aber nicht nur der Bundeskanzler, sondern auch der französische Staatspräsident und die anderen Regierungen Europas. Sie hätten die Amerikaner dazu drängen müssen, die Sicherheitsinteressen Russlands auch zu berücksichtigen. Denn ohne Russland gibt es keinen Frieden in Europa. Es ist ein Irrtum, dass das viele Politiker heute glauben. Außerdem: Sie müssen einsehen, dass man nicht an der Grenze einer Atommacht Raketen aufstellen kann. In diesem Fall US-Raketen mit einer Flugzeit von wenigen Minuten. Sie würden keine Reaktion Russlands mehr zulassen. Das ist ein altes Thema. In der Kubakrise 1962 hätten die USA einen Nuklearkrieg begonnen, wenn die Russen ihre Raketen nicht wieder abgezogen hätten. Es ist verwunderlich, dass die Menschen aus solchen Ereignissen nicht lernen wollen. Oder besser: die Atommächte daraus nicht lernen wollen.
 
Ist das Argument der Nato-Osterweiterung nicht nur vorgeschoben? Es gab doch nie wirklich die realistische Bestrebung, die Ukraine zum Mitglied der Nato zu machen.
 
Noch auf dem NATO-Gipfel 2021 wurde die Absicht bekräftigt, die Ukraine in die NATO aufzunehmen.* Man muss die Tatsachen sprechen lassen. Es stehen nicht russische Truppen an der US-Grenze in Mexiko oder Kanada. Es stehen US-Truppen an der russischen Grenze. Zudem sind die Folgen der Osterweiterung der Nato von vielen US-Politikern immer wieder vorausgesagt worden. Der bekannteste ist George Kennan, der Großmeister der US-Diplomatie, der gesagt hat: Diese Ost-Erweiterung führt in Russland zu Militarismus und Nationalismus. Selten wurde ein Politiker so bestätigt. Noch vor zwei, drei Jahren hat der jetzige CIA-Chef, Bill Burns gesagt, dass die Osterweiterung eine unnötige Provokation Russlands ist. Insofern haben vernünftige US-Politiker vorausgesehen, was kommen würde, wenn man die Sicherheitsinteressen Russlands nicht berücksichtigt.
 
Wenn Sie es in Prozenten ausdrücken würden: Wie groß ist aus Ihrer Sicht der Anteil der USA an der Eskalation des Ukraine-Konfliktes?
 
Das ist nicht eine Frage von Prozenten. Die Osterweiterung geht schon über viele Jahre. Und alle russischen Präsidenten haben dagegen Einspruch erhoben, auch Jelzin. Nur die USA haben sich immer wieder darüber hinweggesetzt. Die Sanktionen beginnen ja lange vor dem Einmarsch der russischen Armee. Die US-Sanktionen sind 2017 von beiden Häusern der USA beschlossen worden mit dem Ziel, Nord-Stream 2 zu verhindern und US-Energie an Europa zu verkaufen. Wer das alles ignoriert, kann niemals zu einer richtigen Beurteilung der jetzigen Lage kommen.
 
Ob als Politiker der SPD oder der Linken: Sie haben sich immer für Schwache und Unterdrückte eingesetzt und solidarisiert. In ihrem Buch merkt man davon nicht gerade viel. Warum ist das bei der Ukraine, einem Land, das von einem mächtigen Nachbarn überfallen wurde, anders?
 
Man muss Kriterien haben. Wenn wir der schwächeren Kriegspartei immer Waffen liefern würden, dann müssten wir das in vielen Regionen der Welt tun. Leider liefern wir oft den Stärkeren und den Aggressoren Waffen, wie beispielsweise Saudi-Arabien oder der Türkei. Es gibt hier überhaupt keine Moral. Alles, was bezüglich der Ukraine moralisch beschworen wird, ist deshalb unglaubwürdig, weil man in anderen Fällen das Gegenteil tut. Was die Schwachen betrifft, da bleibe ich meiner Linie treu. Wer überhaupt an die Schwachen denkt, muss jetzt einen sofortigen Waffenstillstand fordern, denn das ist der sehnlichste Wunsch der Menschen, die jetzt leiden. Und zwar nicht nur der Zivilisten, auch der Soldaten auf beiden Seiten. Das wird in der deutschen Diskussion häufig vergessen. So als müsse man nicht an die russischen Soldaten denken, die da verheizt werden. Wer nicht an diese Menschen denkt und keinen sofortigen Waffenstillstand fordert, ist für mich unglaubwürdig.
 
Wenn wir auf das Bild zurückkommen: Sie sind Kanzler, die Ukraine wurde gerade von Russland überfallen und fordert Waffen, dann würden Sie sagen: Nein, Freunde, das können wir nicht machen, denn das würde die Gewalt nur eskalieren?
 
Die USA haben in den Jahren vor dem Ausbruch des Krieges die Ukraine mit Waffen vollgestopft. Sie haben die ukrainische Armee bereits durch Training und gemeinsame Manöver de facto in die Nato integriert. Auch der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat zu Protokoll gegeben: Wir haben das Minsker Abkommen nur unterschrieben, um Zeit für die Aufrüstung zu gewinnen. Und allgemein wird festgestellt, dass die ukrainische Armee gut ausgestattet und ausgerüstet ist. Insofern wäre nicht der Schwerpunkt gewesen, weitere Waffen zu liefern, sondern sich um eine Verhandlungslösung zu bemühen.
 
Die Ukraine flehte doch nach dem 24. Februar den Westen um Unterstützung durch Waffen an und konnte nun militärisch das Blatt wenden. War es nicht viel mehr so, dass die Waffenlieferungen, auch aus Deutschland, erst den Widerstand ermöglichten?
 
Wie ich bereits sagte, haben die USA seit 2014 die Ukraine ununterbrochen mit Waffen beliefert und aufgerüstet. Davon reden auch die ukrainischen Politiker. Insofern waren Waffen vorhanden. Das sah man auch, als die russische Armee einmarschierte. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass man nicht über den Ukraine-Krieg urteilen kann, wenn man den Putsch von 2014 ausklammert oder den seit 2014 laufenden Krieg in der Ost-Ukraine. Es ist viel zu einfach, am 24. Februar zu beginnen. Das ist eine völlig einseitige Erzählung. Und wenn man nicht bei der Wahrheit bleibt, kann man den Frieden nicht finden.
 
Sie waren Ministerpräsident, SPD-Vorsitzender und Linken-Chef – und doch wählen Sie in Ihrem Buch eine plumpe Wortwahl wie „völlig verblödete Journalisten“, bezeichnen Politiker gerne als „dumm“ oder sprechen von „Medienhetze“. Wie passt diese schrille Sprache zu ihrer honorigen Politikerkarriere?
 
Manchmal muss man klare Worte finden. Es geht ja immer um den Gegenstand, den man anspricht. Wenn beispielsweise Journalisten behaupten, dass die Russen ihre eigenen Pipelines gesprengt hätten, dann ist man fassungslos. Bei so viel Dreistigkeit und Unverschämtheit muss man eine klare Sprache sprechen. Die Menschen in Deutschland leiden durch die Handlungen der Regierung. Die Absicht, keine russische Energie und keine russischen Rohstoffe mehr zu kaufen, bringt viele Menschen und Betriebe in Existenznot. Man sieht, dass sich andere Staaten vernünftiger verhalten. Dann muss man das drastische Urteil fällen, dass wir die dümmste Regierung in Europa haben. Nehmen Sie doch einmal die Spanier, die Belgier oder die Franzosen – wie die sich auch jetzt mit russischen Rohstoffen versorgen, da kann man im Hinblick auf Deutschland nur mit dem Kopf schütteln. Meine Worte sind Ausdruck der Empörung, die ja auch bei vielen Menschen in Deutschland zu finden ist.
 
Glauben Sie nicht, dass ein solch barscher Sprachstil vom Inhalt ablenkt?
 
Ich weiß, dass die Menschen verstehen, wenn man ab und zu eine klare Sprache spricht. Gerade die, die wirklich an der Frage interessiert sind, wie der Frieden in der Ukraine gefunden werden kann. Und auch die, die Anteil an dem Schicksal der betroffenen Menschen nehmen. Viel schlimmer ist die faschistoide Sprache, die in Deutschland mittlerweile um sich greift. Frau Baerbock will „Russland ruinieren“ und der Friedenspreis des deutschen Buchhandels wird einem ukrainischen Autor verliehen, der die Russen als „Tiere“ und „Unrat“ bezeichnet. Und Saskia Esken, Claudia Roth und Katrin Göring-Eckert sitzen dabei und applaudieren.
 
Für Gerhard Schröder haben Sie in Ihrem neuen Buch lobende Worte übrig. So würdigen Sie sein Nein zum Irak-Krieg. Wünschen Sie in dieser Situation Gerhard Schröder als Kanzler zurück? Immerhin hat Schröder einen guten Draht zu Putin…
 
(lacht etwas) Ich glaube, das ist eine sehr theoretische Frage. Aber es ist schon wichtig, dass man in seinen Urteilen immer die gleichen Maßstäbe anlegt. Darauf lege ich auch in dem Buch wert. Ich werfe den westlichen Staaten vor, dass sie sich weigern, durchgehend die gleichen Maßstäbe anzulegen und sich dadurch in immer größere Widersprüche verwickeln. Wenn man die gleichen Maßstäbe anlegt, muss man eben nicht nur Brandt für seine Ostpolitik loben oder Kohl und Genscher, die eben nicht US-Befehle befolgt, sondern deutsche Interessen vertreten haben. Dann muss man auch Gerhard Schröder loben, dass er sich im Fall des Irak-Krieges geweigert hat, sich an diesem völkerrechtswidrigen Krieg zu beteiligen.
 
Sie loben und tadeln auch andere Politiker in Ihrem Buch. Was sagen Sie über Joe Biden?
 
Joe Biden hat in jedem Fall die jetzige Eskalation mitzuverantworten. Alles, was geschehen ist, ist letztlich ohne die Zustimmung der Amerikaner nicht vorstellbar. Ich habe bereits auf die Sprengung von Nord-Stream verwiesen. Er hat dies ja auch öffentlich angekündigt, mit den Worten: „Wir werden dem ein Ende setzen“. Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Und er hat immer wieder neue Waffen geliefert. Jetzt stößt er allerdings auf den Widerstand der neuen Mehrheit im Repräsentantenhaus, die wie auch die New York Times fragt: Welches Ziel verfolgen Sie eigentlich Herr Präsident? Auch ist die Erklärung des US-Verteidigungsministers zynisch, wonach man den Krieg so lange führen sollte, bis Russland derart am Boden liegt, dass es keinen Krieg mehr führen kann. Diese Politik führt in den kommenden Monaten zum Tod vieler Tausender Menschen und zur völligen Zerstörung der Ukraine.
 
Es ist aber rein spekulativ, wenn Sie den USA die Verantwortung für die Nord-Stream-2-Sprengung zuschieben.
 
Wenn solche Terroranschläge vorkommen, muss man sich immer fragen, wem sie nutzen. Die Frage ist so eindeutig zu beantworten, dass es keine andere Antwort gibt. Wir werden jetzt das russische Gas durch teures und umweltschädliches amerikanisches Fracking-Gas ersetzen. Das ist seit vielen Jahren das Ziel der US-Politik.
 
Sie nehmen sich in Ihrem Buch fast ausschließlich die USA kritisch vor. Was sagen Sie denn über die andere Seite, über Wladimir Putin?
 
Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine, den er zu verantworten hat, ist völkerrechtswidrig und durch nichts zu rechtfertigen. Für mich ist und bleibt jeder Krieg ein Verbrechen an der Menschlichkeit.

Das Interview führte Jonas Forster


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*Anmerkung der Redaktion: In den Jahren 2020 und 2021 wurden Partnerschaftsprogramme zwischen der Nato und der Ukraine beschlossen. Jedoch reichte die Ukraine erst am 30. September 2022 einen Antrag zur Mitgliedschaft ein. Insbesondere Angela Merkel war während ihrer Kanzlerschaft gegen eine Aufnahme der Ukraine in die Nato. Auch der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy positioniert sich dagegen. Die Ukraine und Georgien erhielten beim Nato-Gipfel 2008 nur unverbindliche Beitrittsperspektiven.