Sahra Wagenknecht klingt ein wenig gestresst. Sie ist erkältet, die Stimme ist belegt. Zwar hat die Linken-Fraktionsvorsitzende nach monatelangen internen Streits ihren Rückzug von der Fraktionsspitze angekündigt.
Doch noch ist der Terminplan voll: Sie ist das Gesicht der Linken, steckt jetzt mitten im Europawahlkampf.
Im Interview mit DER WESTEN spricht Sahra Wagenknecht über Widerstand und ihre Vision von Europa – und verrät, was sie für die Zeit plant, wenn sie nicht mehr Linken-Fraktionschefin ist.
DER WESTEN: Juso-Chef Kevin Kühnert hat eine Kollektivierung von Konzernen und eine Enteignung von Immobilienbesitzern vorgeschlagen. Ist er in der falschen Partei? Müsste er nicht in der Linkspartei sein?
Sahra Wagenknecht: Es ist doch gut, wenn auch in der SPD mal wieder darüber diskutiert wird, dass sich Dinge auch grundlegend ändern müssen. Und die Aufregung um Kühnerts Aussagen ist zum Teil Heuchelei. Erstens geht es nicht um die Enteignung privater Immobilienbesitzer, sondern um große Immobilienkonzerne, die mit steigenden Mieten Traumrenditen machen.
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Und zweitens: Warum gab es nicht die gleiche Aufregung, als die Politik der letzten Jahre Enteignungen durchgesetzt hat. Die Agenda2010-Reformen, die in Deutschland einen großen Niedriglohnsektor geschaffen haben, waren eine Enteignung von Millionen Arbeitnehmern. Hartz IV enteignet Arbeitslose, egal wie lange sie vorher gearbeitet und eingezahlt haben. Oder wenn die Mieten sich in zehn Jahren verdoppeln, was ist das anderes als eine Enteignung der Mieter? Jetzt geht es darum, die Fortsetzung solcher Enteignungen zu verhindern. Und da bekommen einige plötzlich Schnappatmung.
Warum gab es Ihrer Meinung nach diese Entrüstung auch innerhalb der SPD?
Ach, früher war das normal, dass von den Jusos auch Grundsätzliches gefordert wurde. Und natürlich ist es eine berechtigte Frage, ob Wohnen ein Geschäftsmodell sein sollte, mit dem man dicke Profite machen kann, oder ob die Bereitstellung von Wohnraum nicht eher die Aufgabe öffentlicher oder gemeinnütziger Träger ist. Die Aufregung hängt auch damit zusammen, dass die SPD sich immer weniger traut, große Fragen zu stellen und auch mal große Antworten zu geben.
Hat denn die Linke die große Antwort geliefert? Die Wähler scheinen das jedenfalls noch nicht zu sehen, in Umfragen liegt die Linke vor der Europawahl zum Beispiel hinter der AfD.
Auf jeden Fall haben wir immer schon lange darauf hingewiesen, dass es ein Fehler ist, wenn existienzielle Bereiche des öffentlichen Lebens dem Markt überlassen werden. Das betrifft auch Krankenhäuser und Pflegeheime.
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Es ist doch pervers, dass sich heute Hedge Fonds in Pflegeheime einkaufen, um mit der Pflege hilfsbedürftiger Menschen Reibach zu machen. Diese Fehlentwicklung hat leider auch viel mit der EU zu tun. Denn die EU hat immer Druck in Richtung Privatisierung ausgeübt.
Aber es zeichnet sich im EU-Parlament dennoch ein Rechtsruck ab. Woran liegt das?
Viele Menschen sind enttäuscht von der EU-Politik der letzten Jahre. Ich glaube, die meisten wollen ein geeintes Europa, die wenigsten wollen zurück in die Zeit des Völkerhasses und der Zwietracht. Aber zugleich sehen sie, dass die Brüsseler Institutionen nicht in ihrem Interesse handeln, sondern vor allem in dem großer Unternehmen und Banken.
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Nehmen wir die Finanzkrise: Die EU hat es unterstützt, dass private Banken mit Hunderten Milliarden Euro Steuergeld gerettet wurden, während Städte Druck aus Brüssel bekommen, wenn sie ihren Nahverkehr oder ein Krankenhaus subventionieren möchten, weil das angeblich eine „verbotene Beihilfe“ ist. Steuerdumping von Konzernen wie Apple verhindert die EU nicht, aber sie drängt auf europaweite Ausschreibungen, die kleine lokale Unternehmen benachteiligen.
Sie werben auf Ihrer Webseite für Widerstand: Wogegen?
Widerstand gegen eine Politik, die die Ungleichheit vergrößert und den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft zerstört. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat kürzlich eine Studie veröffentlicht, nach der der Löwenanteil der Zugewinne in Deutschland seit Jahren bei den oberen zehn Prozent ankommt, während die Mitte kaum profitiert und die Ärmeren sogar verlieren. Ich halte es für dringend notwendig, sich gegen diese Politik zu wehren. Keine Demokratie hält es auf Dauer aus, wenn nur eine Minderheit vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert.
Und wie wehrt man sich dagegen? Sind die Gelbwesten in Frankreich ein Vorbild?
Ich habe großen Respekt vor den Zehntausenden Menschen, die jetzt schon seit Monaten jeden Samstag in Frankreich auf die Straße gehen und Macron unter Druck setzen. Es ist völlig falsch, diese Bewegung auf die Gewaltexzesse zu reduzieren, die es teilweise in Paris gab.
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Übrigens auch von Seiten der Polizei. Die Gelbwesten sind überwiegend eine friedliche Bewegung von Menschen, die sich wehren, weil ihre Interessen von den Regierungen immer ignoriert wurden. Friedliche soziale Proteste brauchen wir auch in Deutschland. Es gibt zu viele Menschen, die sich nicht nur abgehängt fühlen, sie sind es. Und es ist an der Zeit, dass ihre Bedürfnisse ernst genommen werden, sonst wenden sie sich von der Demokratie ab.
Ein großes Streitthema in Ihrer Partei war zuletzt der Umgang mit Migration. Was ist bei der Flüchtlingspolitik Ihrer Meinung nach seit 2015 falsch gelaufen?
Es ist eine Illusion zu glauben, man könne die globale Armut dadurch lindern, dass man Migration fördert. Mit Hilfe vor Ort kann man viel mehr bewirken. Außerdem muss die EU ihre unfaire Handelspolitik verändern, muss aufhören, Waffen in Kriegsgebiete zu exportieren.
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Europa sollte sich endlich dagegen auflehnen, dass die USA selbstherrlich ganze Regionen mit Krieg überziehen, weil ihnen irgendwo ein Regime nicht passt. Aktuell erleben wir das gegenüber dem Iran. Dabei hat Washington im Nahen Osten mit dem Irakkrieg und der Unterstützung islamistischer Rebellen in Syrien schon genug Unheil angerichtet. Am Ende wurden ganze Länder zerstört, Hunderttausende Menschen ermordet und riesige Flüchtlingsströme ausgelöst.
Die Bundesregierung will Migration indes weiter fördern, gerade wird über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beraten, das ausländische Fachkräfte nach Deutschland locken soll.
Es ist verantwortungslos, wenn man armen Ländern die wenigen qualifizierten Fachkräfte , die sie haben, auch noch abwirbt. Heute arbeiten zum Beispiel allein in London mehr Ärzte aus dem Sudan als in dem ganzen afrikanischen Land. Auch in Deutschland gibt es immer mehr Ärzte aus armen Ländern. Und gleichzeitig halten wir junge Menschen mit einem harten Numerus Clausus vom Medizinstudium an. Was ist das für ein Irrsinn? Oder auch in der Pflege.
Wobei Deutschland mit einem akuten Pflegenotstand zu kämpfen hat, der irgendwie gelöst werden muss.
Ja, wir haben einen Pflegenotstand, aber der rührt daher, dass wir Pflegekräfte viel zu schlecht bezahlen und ihnen Überlastung und Dauerstress zumuten. Deshalb entscheiden sich immer weniger Menschen für diesen wichtigen Beruf. Aber statt dessen Pfleger aus Osteuropa zu holen ist doch keine Lösung.
Auch dort werden die Menschen älter und sind auf Pflege angewiesen. Viele osteuropäische Länder versuchen jetzt verzweifelt, ihr Pflegeproblem dadurch zu lösen, dass sie Pfleger von den Philippinen holen. Das ist eine Entwicklung, bei der am Ende die ärmsten Länder verlieren.
Was für ein Lohn wäre denn fair für Pflegekräfte?
Wer sich fürsorglich um andere Menschen kümmert, ob im Krankenhaus, im Pflegeheim oder auch in der Kita, gehört für mich zu den wichtigsten Leistungsträgern unserer Gesellschaft.
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Es gibt keinen Grund, sie schlechter zu bezahlen als jemanden, der in Banken Geld verwaltet oder der ein Auto baut. Da sind wir wieder beim Thema: Man darf diese Bereiche nicht privaten Renditejägern überlassen. Wir finanzieren heute mit unserer Pflegeversicherung deren Gewinne, statt Pfleger besser zu bezahlen.
Vor ziemlich genau zwei Monaten haben Sie ihren Rückzug von der Parteispitze der Linken angekündigt. Wie fühlt sich das jetzt an? Bereuen Sie das inzwischen auch ein bisschen?
Im Gegenteil. Ich bin froh, dass ich die Konflikte und den Druck nicht mehr habe. Allerdings ist mein Terminkalender noch nicht wirklich entspannter geworden, denn noch bin ich ja Fraktionsvorsitzende und ich habe jetzt vor der Europawahl noch ziemlich viele Termine. Ich freue mich auf die Zeit, wenn ich wirklich einen neuen Lebensabschnitt beginnen kann.
Das wird im Herbst passieren. Welche Pläne haben Sie für die Zeit danach?
Ich werde mich weiter politisch engagieren. Aber ich denke, dass ich am Ende sogar mehr bewegen kann, wenn ich wieder mehr Freiräume habe. In dem Dauerstress der letzten Jahre hatte ich kaum noch Zeit, ein Buch zu lesen. So entstehen keine neuen Ideen mehr, mit denen man in die Debatte eingreifen kann. In Zukunft habe ich die Hoheit wieder über meinen Terminkalender und ich kann mich auf Dinge konzentrieren, die ich für sinnvoll halte.
Wie sieht denn Ihre konkrete politische Arbeit aus? Von der Führung Ihrer Bewegung „Aufstehen“ haben Sie sich ja auch zurückgezogen.
Ich werde weiter Abgeordnete sein, auch weiterhin interessante öffentliche Veranstaltungen wahrnehmen, wo ich mit den Menschen ins Gespräch komme, aber auch wieder mehr publizieren. Und natürlich werde ich mich auch in der Bewegung „Aufstehen“ weiter engagieren. Immerhin unterstützen diese unverändert über 150 000 überwiegend Parteilose, die die wachsende soziale Spaltung in unserem Land nicht hinnehmen, sondern etwas dagegen tun wollen.
Wie sieht eine perfekte EU für Sie aus?
Wir brauchen eine gute und enge europäische Zusammenarbeit in einer EU souveräner Demokratien. Die EU sollte sich auf die Fragen konzentrieren, die nur auf europäischer Ebene gelöst werden können. Wir sollten nicht versuchen, immer mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern, weil es wichtige Voraussetzungen, die eine lebendige Demokratie braucht, auf EU-Ebene nicht gibt. Wir haben keine wirkliche europäische Öffentlichkeit, keine echten europäischen Parteien. Deshalb ist der Lobbyeinfluss großer Unternehmen in Brüssel noch größer als in den Nationalstaaten. Wichtig wäre in jedem Fall eine gemeinsame europäische Außenpolitik. Da muss die EU viel stärker und selbstbewusster auftreten, um ihre Interessen zu wahren, etwa gegenüber den USA.