Am 14. Mai stehen die Türkei-Wahlen an. Dann wird klar, ob Recep Tayyip Erdogan seine Alleinherrschaft weiter ausbaut oder ihn Konkurrent Kemal Kılıcdaroglu vom politischen Thron stößt. Angesichts der Umfrage rechnet man dem Erdogan-Kontrahenten hohe Chancen aus.
Der Journalist Eren Güvercin hat dabei eine klare Meinung zur Türkei-Wahl. Unserer Redaktion gegenüber machte er klar, wie viel Panik Erdogan und seine Gefolgschaft vor der Türkei-Wahl haben. Auch im Hinblick auf den deutlichen Verlust seiner deutschen Anhänger…
++ Alles zur Türkei-Wahl im News-Ticker +++
Türkei-Wahl: Erdogan „angezählt und nervös“
Im Zuge der Türkei-Wahl gab der Journalist Güvercin seine Meinung zum möglichen Machtverlust Erdogans und den Chancen seines Gegners Kılıcdaroglu ab. Güvercin schreibt für verschiedene Zeitungen und Hörfunksender, u.a. für die FAZ, „Die Zeit“ und „Focus“. Dazu ist er Gründungsmitglied und Projektleiter der Alhambra Gesellschaft, ein Zusammenschluss von europäischen Muslimen.
Redaktion: Ist aus Ihrer Sicht eine friedliche Machtübergabe bei einem Sieg von Kemal Kılıçdaroğlu möglich? Das Erdogan-Lager spricht angesichts der Umfragen nun von einem Putsch.
Eren Güvercin: „Erdogan ist angezählt und nervös. Der ganze Machtapparat, zu dem auch Akteure aus der organisierten Kriminalität angehören, ist in Panik. Sie versuchen jetzt schon eine Verschwörung ausländischer Mächte zu konstruieren, die die Wahlen am 14. Mai nutzen wollen, um Erdogan zu stürzen. Diese Einschüchterungsversuche werden bis zur Wahl noch weiter zunehmen. Wichtig ist, dass die Opposition sich nicht provozieren lässt. Bei einer Niederlage hat Erdogan keine Wahl. Er wird das akzeptieren müssen. Denn die demokratische Zivilgesellschaft in der Türkei ist so stark wie lange nicht, trotz der Manipulationen, Diffamierungen und Repressionen durch Erdogan.“
Droht die Türkei politisch ein noch mehr gespaltenes Land zu werden, ähnlich wie die USA nach der Abwahl des Ex-US-Präsidenten Donald Trump?
„Ich weiß nicht, ob man diesen Vergleich so ziehen kann, aber eins ist klar: Die gesellschaftlichen Spannungen und die Spaltung wird mit einer Niederlage von Erdogan nicht einfach so verschwinden. Die Überwindung dieser Spaltung und die Wiederherstellung der Demokratie in der Türkei wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Dabei wird es auch immer wieder zu neuen Spannungen und auch Rückfällen kommen. Erdogan und die AKP haben über 20 Jahre die politische Kultur im Land geprägt und das politische System nach Erdogans Vorstellungen umgebaut. Das hat tiefe Spuren im Staat und der Gesellschaft hinterlassen.“
Würde es Kılıçdaroğlu schaffen, die Türkei wirtschaftlich zu stabilisieren? Was muss er in Hinsicht auf die hohe Inflation anpacken?
„Nach der Wahl und einem möglichen Machtwechsel wird das wirkliche Ausmaß der Wirtschaftskrise erst zum Vorschein kommen. Wirtschafts- und Finanzexperten im Oppositionsbündnis gehen davon aus, dass nach einem Machtwechsel die wirtschaftliche Krise erst einmal zunehmen wird. Kilicdaroglu würde einen maroden Staat übernehmen. Das Wichtigste wird sein, das Vertrauen in die türkische Zentralbank wiederherzustellen und neue Investitionen aus dem Ausland ins Land zu holen.“
Das Oppositionsbündnis „Sechser-Tisch“, deren Kandidat Kılıcdaroglu ist, umfasst ein politisches Spektrum von links bis rechts, um Erdogan zu stürzen. Ist dieses Bündnis überhaupt stabil genug, um gemeinsam zu regieren?
„Ja, das Oppositionsbündnis besteht aus Parteien, die fast schon nicht gegensätzlicher sein könnten. Und Konflikte sind vorprogrammiert, wenn es bei einem Wahlsieg um die Machtverteilung und Ministerposten geht. Aber das kann auch eine Stärke sein, denn jede Partei dieses Oppositionsbündnisses repräsentiert relevante gesellschaftliche Gruppen. Wenn das Oppositionsbündnis es schafft, die unterschiedlichen Akteure und ihre Interessen zu verfolgen und einen gemeinsamen Nenner in den wichtigen Fragen zu finden, dann kann dies eine einzigartige Möglichkeit sein, die gesellschaftlichen Spannungen zu überwinden.“
Welche Auswirkungen hätte eine Abwahl Erdogans im Hinblick auf den Flüchtlingspakt mit der EU? Die Oppositionsallianz kündigte an, diesen zu überprüfen.
„Die fast vier Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei sind eine der zentralen Themen im Wahlkampf. In den letzten Jahren hat der Rassismus gegenüber syrischen und auch afghanischen Flüchtlingen massiv zugenommen. Die Opposition will mit dem syrischen Präsidenten Assad Verhandlungen führen, um die Rückkehr der Flüchtlinge zu organisieren. Und sicherlich wird es auch Gespräche mit der EU über das Flüchtlingsabkommen geben. In der Opposition kann man vieles fordern und ankündigen, ob das alles realistisch ist, wenn man an der Regierung ist, wird sich zeigen.“
Könnte die Wahl auch das Verhältnis zwischen der Türkei und Russland beeinflussen? Wie steht Herausforderer Kılıçdaroğlu zu Putin und dem Ukraine-Krieg?
„Kilicdaroglu hat angekündigt, dass er wert darauf legen wird, gute Beziehungen zu Russland zu haben. Das sei für die türkischen Interessen aus unterschiedlichen Gründen wichtig. Aber Kilicdaroglu wird sicherlich eine andere Außenpolitik führen als Erdogan, eine Außenpolitik, die nicht auf Konfrontation mit dem Westen setzt, sondern die Brückenfunktion, die die Türkei spielen kann, wieder in den Fokus nimmt.“
Mehr News:
Im Hinblick auf den Wahlkampf in Deutschland: Wieso wählen Deutschtürken zumeist Erdogan? Kann er hierzulande erneut eine satte Mehrheit kriegen?
„Ich bin davon überzeugt, dass Erdogan und seine AKP auch jetzt bei uns in Deutschland eine wesentlich höhere Zustimmung erzielen werden als in der Türkei. Bei dieser Frage dürfen wir bei aller Kritik an den Zuständen in der Türkei einen Fehler nicht begehen, nämlich, indem wir unsere Verantwortung als Gesellschaft und Politik völlig ausklammern. Denn Erdogan betreibt seit über 20 Jahren eine intensive Diasporapolitik und erreicht mit einer emotionalen Ansprache viele Türkeistämmige in Deutschland. Er hat es geschafft, Diskriminierungserfahrungen für seine politische Agenda zu missbrauchen und bei vielen Türkeistämmigen das Gefühl zu vermitteln, dass er ihr Fürsprecher und großer Bruder sei. Diese aggressive Diasporapolitik haben wir lange Jahre nicht wahrgenommen oder nicht wahrnehmen wollen. Wenn wir uns darüber empören, warum so viele in Deutschland Erdogan wählen, dann sollten wir als Gesellschaft, aber auch unsere politischen Verantwortlichen sich fragen, warum wir all die Jahre Erdogans Agitation ignoriert und dem nichts entgegengesetzt haben.“