Am Samstag jährt sich zum zweiten Mal der Beginn einer Eskalation, die die Welt in Atem hält: der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Seit der Eskalation des Krieges stehen Millionen von Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz, Familien wurden auseinandergerissen, Städte in Kriegsgebiete verwandelt und unzählige Leben für immer verändert.
Doch wie steht es zwei Jahre nach der Eskalation um die humanitäre Hilfe in der Ukraine?Im Gespräch mit der Redaktion berichtet Christof Johnen, Leiter der Internationalen Zusammenarbeit des „Deutschen Roten Kreuzes“, von den Herausforderungen vor Ort.
„Ukraine weiterhin auf humanitäre Hilfe angewiesen“
Herr Johnen, wie würden Sie die aktuelle humanitäre Lage in der Ukraine beschreiben?
Christof Johnen: Die Situation vor Ort ist zwei Jahre nach der Eskalation sicherlich nicht mehr so wie vor zwei Jahren, aber Millionen von Menschen in der Ukraine sind weiterhin auf humanitäre Hilfe angewiesen. Im Süden und Südosten des Landes gibt es jeden Tag die Kampfhandlungen. Dort besteht die Arbeit nach wie vor darin, Soforthilfe zu leisten. Anders sieht es im Westen und Nordwesten des Landes aus. Dort wird viel über den Wiederaufbau gesprochen und gleichzeitig gibt es dort immer noch Millionen von Binnenvertriebenen, so dass natürlich auch dort der humanitäre Bedarf sehr groß ist.
Mit welchen Schwierigkeiten sind Binnenvertriebene in der Ukraine konfrontiert?
Christof Johnen: Durch die Vertreibung können die Menschen ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen, wodurch auch ihre finanziellen Ressourcen erschöpft sind. Sie müssen auf engstem Raum leben, oft in Gastfamilien. Zudem ist der Krieg natürlich auch für diese Menschen tagtäglich spürbar, wenn es zu Luftangriffen oder Drohnenangriffen kommt.
„Krieg in der Ukraine tagtäglich spürbar“
Hat sich die humanitäre Situation vor Ort in den letzten Monaten verbessert?
Christof Johnen: Es ist nicht mehr so wie zu Beginn der Eskalation, als es die großen Bevölkerungsbewegungen gab. Man kann sagen, dass alles statischer geworden ist und die Systeme vor Ort besser funktionieren. Aber der humanitäre Bedarf ist geblieben und die Menschen sind natürlich auch traumatisiert von dem, was sie erlebt haben. Gerade der Bedarf an psychosozialer Unterstützung ist enorm. Leider ist die Situation in der Ukraine vor allem im letzten Quartal 2023 etwas aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geraten – das ändert sich jetzt zum Glück wieder etwas.
In welchem Umfang ist das Deutsche Rote Kreuz in der Ukraine?
Christof Johnen: Wir haben derzeit 17 entsandte Mitarbeiter vor Ort, die über das ganze Land verteilt sind. Das Ukrainische Rote Kreuz hat uns gebeten, für bestimmte Regionen sozusagen eine besondere Verantwortung zu übernehmen. Zum einen den Nordwesten des Landes an der Grenze zu Polen und Belarus. Genauso wie im Süden und Südosten des Landes und auch in Kiew.
Wo liegt der Schwerpunkt Ihrer Arbeit vor Ort?
Christof Johnen: Unser Schwerpunkt liegt im Gesundheitsbereich. Gemeinsam mit dem Ukrainischen Roten Kreuz haben wir mobile Gesundheitsstationen entwickelt. Das sind mehrere mit medizinischem und pflegerischem Personal besetzte Kleintransporter, die vor allem in ländlichen Gebieten die Gesundheitsversorgung sicherstellen. Diese mobilen Gesundheitsstationen fahren verlässlich nach einem Fahrplan durch das Land und sind immer zu bestimmten Zeiten vor Ort. Darüber hinaus qualifizieren wir ehrenamtliche Helferinnen und Helfer für die psychosoziale Betreuung von Menschen. Auch mit geldwerter Hilfe in Form von Einkaufsgutscheinen unterstützen wir. Natürlich gehört auch der Katastrophenschutz wie die Unterbringung von Menschen dazu.
„Wirtschaftlich und psychisch auch für Helfende nicht leicht“
Und wie ergeht es den Helfenden in der Ukraine?
Christof Johnen: Die freiwillig Helfenden des Ukrainischen Roten Kreuzes leben natürlich auch vor Ort und sehen somit traumatische Konflikterlebnisse und auch sie verspüren wirtschaftliche Sorgen. Die Helfenden bekommen eine kleine Aufwandsentschädigung, sodass für die Verpflegung vor Ort gesorgt ist – eine Familie ernähren kann man damit aber natürlich nicht. Wirtschaftlich und psychisch ist es also auch für sie nicht einfach. Trotzdem helfen die Freiwilligen mit bewundernswertem Engagement vor Ort.
„Immernoch rund vier Millionen Binnenflüchtlinge“
Ist die humanitäre Hilfe für die nächsten Monate denn sichergestellt?
Christof Johnen: Insbesondere im Gesundheitsbereich gehen wir davon aus, dass der Bedarf auch nach dem Ende der Kampfhandlungen weiter bestehen wird. Dementsprechend sind wir darauf vorbereitet. Bei allem Verständnis dafür, dass jetzt über den Wiederaufbau nachgedacht wird, darf man nicht aus den Augen verlieren, dass die humanitäre Not weiterhin groß ist. Um ihr entgegenzuwirken, braucht es Spenden und auch die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag sind gefordert, ausreichende Mittel für humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. Schließlich gibt es immer noch rund vier Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine. Meine Sorge ist, dass gerade dieser Aspekt aus dem Blickfeld gerät.