Eine Busreise nach Kiew – Teil 2 der Reportage in die kriegsgebeutelte Ukraine.
Vor der Stadtgrenze von Kiew sehe ich durch die Fensterscheibe des Busses immer mehr im Krieg zerstörte Gebäude. Das gab es bei der Fahrt durch den Westen der Ukraine vorher nicht. Aber hier: eingestürzte Wohnhäuser und Tankstellen, umgeknickte Bäume.
Beim Erreichen der Stadtgrenze sind am Straßenrand Bauarbeiter zu sehen, die ganz normal an einer Autobahnbrücke arbeiten. Als gäbe es keinen Krieg. Luftalarm-Sirenen sind im Gegensatz zum frühen Morgen in der Stadt Rivne nicht zu hören. Überall liegen Panzersperren. Bei der Ankunft am Busbahnhof selbst gibt es keine großen Empfangskomitees für meine Mitreisenden aus der Ukraine. Emotionsausbrüche bleiben aus. Schnell weiter lautet eher die Devise. Auch bei mir.
Ukraine: Zurückhaltendes Kiew ein paar Stunden nach dem Angriff
Mein erster Eindruck: Über Kiew hängt der Schleier des Krieges und eines erneuten Raketenangriffs. Der Bus, aus dem ich gerade ausgestiegen bin, fährt sogar noch weiter in den Osten des Landes, nach Charkiw. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur Front.
Als ich nach ein paar Metern Fußweg vor dem Hauptbahnhof stehe, kontrollieren Soldaten den Eingang. Ich versuche deswegen nicht, hineinzukommen. Meinen deutschen Pass will ich nicht ausgerechnet jetzt der Armee erklären müssen. Vor allem, wenn kaum jemand Englisch spricht. Ich drehe um.
Zwei Kilometer sind es bis zu meiner Unterkunft. Auf dem Bürgersteig kommen mir so gut wie keine Menschen entgegen, auch der Verkehr ist für solch einen zentralen Ort ziemlich ruhig. Viel weniger, als ich durch die Erzählungen meiner Kontakte in Kiew erwartet hatte. Vielleicht bleiben die Einwohner wegen des Angriffs am Morgen noch zuhause? Die Umgebung am Bahnhof ist zudem eher grau und trist. Die Gesamtsituation unbehaglich.
+++ Ukraine-Krieg: Putin sagt ganz offen, was er alles erobern will – es ist erschreckend +++
Man bewegt sich auf jeden Fall anders durch eine Stadt in einem Land, das angegriffen wird. Ich halte zum Beispiel immer wieder Ausschau nach Unterführungen und U-Bahnstationen, die mir in einem plötzlichen Ernstfall Schutz bieten könnten. Vor der Universität sehe ich endlich das erste mal Menschen, die sich ausgelassen und fröhlich unterhalten.
Ukraine-Krieg: Vorsichtig durch die Hauptstadt
Mein Appartement liegt nicht weit entfernt vom Maidan. Auch hier ruht das Leben am Vormittag noch zum größten Teil. Einchecken kann ich noch nicht, aber den Code für das Appartement-Gebäude habe ich schon. Das untere Treppenhaus ist massiv und ohne Fenster, einen Keller sehe ich nicht. Aber das reicht mir erst mal, um mich kurz auszuruhen und in Sicherheit zu wägen.
Eigentlich sahen meine Pläne unter anderem vor, im Zentrum der Stadt eine Bekannte zu treffen und am Abend das Playoff-Endspiel um die WM zwischen Wales und der Ukraine zu sehen. Wegen der angespannten Lage aber sehe ich von beidem ab und buche im Treppenhaus schon für den Abend eine Busrückfahrt. 37€ für 800 Kilometer bis Warschau. Dazwischen bleibt noch Zeit, um sich Kiew genauer anzusehen.
+++ Erdogan droht mit nächstem Krieg in Europa – „Ich spaße nicht“ +++
Auch die Frau, die mich in die Unterkunft lässt, spricht kein Englisch. Mit Händen, Füßen und Smartphone klappt die Verständigung aber wieder. Für nur 30€ die Nacht war das schicke Deluxe-Appartement mit Kochnische zu haben. Ein Schnäppchen. Leider fast im obersten Stock des Gebäudes. Bei einem Raketenangriff alles andere als optimal.
Auf dem Weg zum zentralen Platz, dem Maidan, wirkt die Stadt immer noch eingeschlafen. Nach wie vor sind nur wenige Autos auf den breiten Straßen und wenige Menschen auf den Bürgersteigen unterwegs.
Was völlig normal ist im Stadtbild: Soldaten, die kleine Bunker vor Behörden oder andere Checkpoints errichtet haben. Auf Bürgersteigen liegen Panzersperren, bei Bedarf werden sie einfach auf die Straßen gezogen.
Auch der Maidan selbst, ein traumhaft schöner Ort, ist eher verlassen. An einem Lokal am Rande läuft elektronische Musik, ein paar wenige Menschen sitzen im Außenbereich. Daneben steht eine Filiale von McDonald’s. Sie hat, wie alle anderen in der Ukraine auch, geschlossen.
Ukraine: Absurde Szenen in der Innenstadt
Richtig bizarr wird es ein paar Meter weiter: Eine Touristenführerin steht vor eine Gruppe und erklärt irgendetwas. Kaum zu glauben wenige Stunden nach einem Raketeneinschlag. Hier zeigt sich das Leben im Krieg auf absurde Weise.
Genau wie etwa einen Kilometer vor dem St. Michaelskloster. Dort wurden zerstörte russische Panzer, Haubitzen und andere Fahrzeuge ausgestellt. Völlig ausgebrannt stehen sie da, Kinder klettern auf ihnen herum und Eltern machen Fotos.
Neben der kleinen Panzer-Parade haben die Ukrainer in einer Heidenarbeit Statuen mit Tausenden Sandsäcken eingehüllt. Daran hängen verzweifelte Botschaften. „Welt, hilf uns“, heißt es auf einem Stoff-Plakat. Und auf einem anderen: „Mein Militär-Sohn hat sein Bein verloren und wartet nun in Mariupol darauf, getötet zu werden?!“.
+++ Ukraine-Krieg: Diese Frau flieht in ein neues Leben – doch Putins Schergen sind überall +++
Als ich mich später auf den Rückweg zur Unterkunft mache, haben sich deutlich mehr Menschen hinausgetraut als am Vormittag. Ich gehe an einem gut gefüllten Café vorbei, zwei Frauen sitzen dort mit zwei kleinen Kindern, kurz zuvor haben sie, den Tüten auf dem Boden nach, anscheinend eingekauft.
Auch auf den Straßen ist jetzt mehr los. Kiew hat sich anscheinend schon wieder erholt vom morgendlichen Schock der ersten Raketeneinschläge seit Wochen. Trotzdem weiß niemand, was die nächsten Tage bringen und ob wieder Raketen die Stadt treffen werden.
Am Abend versammeln sich die Menschen in Kneipen und Restaurants, um das Playoff-Spiel der Nationalmannschaft zu sehen. Wieder so etwas wie Normalität. Die Ukraine verliert unglücklich mit 0:1 gegen Wales und fährt nicht zur Weltmeisterschaft in Katar. Trotzdem sind die Einwohner der Hauptstadt stolz.
>>> Teil 2 der Reportage: Ich will von Kiew nach Deutschland – aber die Reise wird eine quälend lange Odyssee >>>