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Warum die Berufskollegs in NRW in der Krise stecken

Warum die Berufskollegs in NRW in der Krise stecken

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Berufskolleg West Foto: Volker Hartmann/Funke Foto Services
Berufskollegs bieten alle Abschlüsse und kennen keine sozialen Schranken. Trotzdem glauben Lehrer, dass diese Schulen oft vernachlässigt werden.

Essen. 

„Deutschland ist stolz auf die duale Berufsausbildung.“ Wenn Kanzlerin Angela Merkel Spanien oder Griechenland besucht, sagt sie gerne diesen Satz. Ihr Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel meint: „Das System der beruflichen Ausbildung ist ein Erfolgsmodell, um das wir weltweit beneidet werden.“ In den Berufskollegs aber, in denen in NRW eine halbe Million junge Menschen, darunter viele Lehrlinge, aufs Berufsleben vorbereitet werden, hat man nicht den Eindruck, dass die Politik über Sonntagsreden hinauskommt. Im Gegenteil: Viele der Lehrer glauben, dass sich die Politik gar nicht für sie interessiert.

„Wir bieten alle Abschlüsse an, von Hauptschule Klasse 9 bis zum Abitur. Im Grunde besucht jeder, der nicht studiert, ein Berufskolleg. Dennoch werden wir stiefmütterlich behandelt“, findet Georg Greshake, Chef des städtischen Berufskollegs Essen West.

Mehr Schüler am Berufskolleg als an Gymnasien

Berufskollegs (BK) sind Riesen im Schulsystem: 530 000 Schüler in NRW (an den Gymnasien sind es 460 000); allein in Essen gibt es mehr als 20 000 BK-Schüler. Und Berufskollegs sind Alleskönner. Sie machen fit fürs Studium und geben Schulabbrechern eine Chance; sie bilden zusammen mit Betrieben Frisöre, Zerspaner, Kaufleute aus; sie kümmern sich um 30-Jährige, die noch keinen Job haben und um jene, deren Lebenswege nicht vergoldet sind.

Steffen Hombrecher leitet am Essener Kolleg die berufliche Grundbildung. Er und seine Kollegen kümmern sich um Jugendliche, die „auf dem Arbeitsmarkt mangels Vorbildung keine Chance haben“. Etwa jeder Dritte von ihnen kriegt hier noch die Kurve. Für Hombrecher ist der Job „auch eine Form von Sozialarbeit“.

Die Berufskollegs sorgen für Durchlässigkeit im Bildungssystem

Bildungsforscherin Sybille Stöbe-Blossey meint, diese Allround-Schulen verdienen mehr Wertschätzung: „Die Berufskollegs sorgen für Durchlässigkeit im Bildungssystem. Insbesondere für Jugendliche aus bildungsfernen Familien sind sie eine Art zweite Chance, um das zu korrigieren, was mit zehn Jahren entschieden wurde: Auch mit 16 kann man sich noch für einen Bildungsgang entscheiden, der zur Hochschulreife führt, und dies mit beruflichen Kenntnissen verbinden.“

NRW will an Berufskollegs 500 Lehrerstellen streichen. Weil die Schülerzahlen allgemein sinken und weil bessere Übergänge von der Schule in den Beruf geschaffen werden soll. Motto: „Kein Abschluss ohne Anschluss“. Künftig, so die Erwartung des Schulministeriums, werden Jugendliche „zielgenauer“ durch die Ausbildung und in die Berufe geführt.

„Man nimmt uns heute schon die Lehrer“

„Künftig vielleicht, aber bisher noch nicht“, entgegnen die Lehrer am BK Essen-West. „Dennoch nimmt man uns heute schon die Lehrer.“ Ein frustrierendes Erlebnis. Denn die Kollegs werden personell nach ähnlichen Regeln ausgestattet wie Gymnasien oder Realschulen, obwohl sie anders arbeiten.

„Wenn am Gymnasium die Zahl der Schüler und Lehrer sinkt, kann ich aus fünf Klassen vier machen. Bei uns nicht. Es ist egal, ob 16 oder 25 Schüler in einer Klasse für Kunststoff-Technik sitzen, es bleibt eine Klasse, und die braucht einen Lehrer“, heißt es in Essen.

Fünfmal mehr Studenten wollen Gymnasiallehrer werden

Zum Stellen- kommt das Nachwuchs-Problem: Nur wenige streben ein Lehramt an Berufskollegs an, fünfmal mehr wollen Gymnasiallehrer werden, obwohl beide Schulformen etwa gleich groß sind. „Wir versuchen, schon unsere Schüler für diesen Beruf zu motivieren“, sagt Schulleiter Greshake.

Gleichzeitig werben die BK über die eigenen Stadtgrenzen hinaus um Schüler, um überleben zu können. Beobachter rechnen damit, dass sich die Kollegs gegenseitig kannibalisieren werden. Die Welt muss die deutsche Berufsbildung also nicht um alles beneiden.