Revierstädte berichten, dass immer mehr anerkannte Flüchtlinge aus süd- und ostdeutschen Bundesländern ins Ruhrgebiet kommen. In den Großstädten sorgt das für Probleme.
Essen.
Zahlreiche Großstädte an Rhein und Ruhr warten ungeduldig auf die von der Bundesregierung beschlossenen Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge. Asylbewerbern, die eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben, will der Staat künftig vorschreiben, wo sie zunächst wohnen sollen. Bisher können anerkannten Flüchtlinge frei entscheiden, wo sie leben – und sie ziehen offenbar immer häufiger in den Ballungsraum Ruhr. Für die Großstädte birgt das Probleme.
Vor allem aus süd- und ostdeutschen Kommunen lockt es die Zuzügler ins Ruhrgebiet. Davon berichten die Rathäuser etwa in Bochum, Essen und Gelsenkirchen. In der Schalke-Stadt sei zuletzt sogar ein Reisebus mit Flüchtlingen aus dem „tiefsten Süden“, wie Stadtsprecher Martin Schulmann erzählt, angekommen. „Sie wollten sich alle am selben Tag unter der selben Adresse anmelden.“ In Bochum fällt laut Sozialverwaltung auf: Besonders aus ostdeutschen Städten kämen viele Migranten in die Stadt.
Umzug ins Ruhrgebiet ans Herz gelegt
Essen vermutet dahinter sogar System. Laut der Sozialverwaltung sprechen immer mehr anerkannte Flüchtlinge bei Wohnungsbauunternehmen und Beratungsstellen vor, denen man den Umzug ins Ruhrgebiet regelrecht ans Herz gelegt habe. Dort hätten sie größere Chancen. Essens Sozialdezernent Peter Renzel ärgert sich über solche Umzugsempfehlungen: „Das ist unsozial.“ Die Integrationsprobleme und -kosten würden ungleich verteilt.
Im Ruhrgebiet leben nach Angaben des Landesstatistikamts rund 665 000 Ausländer. Das entspricht etwa 13 Prozent der Bevölkerung. Ein Blick auf die Herkunftsländer zeigt, wie multikulturell die Region ist: Die Menschen kommen aus Ländern von A wie Algerien bis Z wie Zypern.
NRW-weit stieg die Zahl der hier lebenden Ausländer von 2014 um 196 000 auf 2,3 Millionen Einwohner im Jahr 2015.
Denn die meisten anerkannten Flüchtlinge hätten zunächst keine Beschäftigung. Sie beziehen Hartz-IV-Leistungen und die Kommune muss für Miete und Heizung aufkommen. „Unsere Sozialkosten steigen also“, sagt Renzel. Er rechnet vor: Ende 2015 gab es in Essen 3246 Hartz-IV-Haushalte, in denen bis zu 7500 Menschen aus den acht zuzugstärksten Nicht-EU-Ländern lebten – darunter Afghanen, Iraker und Iraner. „Jetzt ist die Zahl dieser Haushalte auf 4545 mit fast 10 000 Bewohnern gestiegen.“
Hohe Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum
Zudem werde die Lage auf dem ohnehin umkämpften Wohnungsmarkt verschärft. Max Niklas Gille vom im Ruhrgebiet sehr präsenten Wohnungsriesen Vonovia sagt voraus: „Besonders in den Innenstädten, wo die Wege kurz sind, wird der Wohnraumbedarf weiter steigen.“ Er rechnet damit, dass die Nachfrage im Herbst nochmals deutlich anwachsen werde: „Dann werden all jene Flüchtlinge, die mit der letzten großen Zuwanderungswelle 2015 nach Deutschland gekommen sind und bleiben dürfen, ihre Papiere erhalten haben.“
Milderung für die so unter Druck gesetzten Großstädte schaffen könnte aus Sicht der Kommunen nur eine Residenzpflicht für anerkannte Flüchtlinge. Diese hatte die Bundesregierung jüngst mit dem neuen Integrationsgesetzt verabschiedet. Demnach soll Flüchtlingen, die eine Aufenthaltsgenehmigung haben, noch für maximal drei Jahre der Wohnort vorgeschrieben werden. Nicht gelten soll das für Flüchtlinge, die andernorts einen Job oder Studienplatz haben.
Leben, wo Landsleute wohnen
Zuständig für die Verteilung wären die Länder. Die NRW-Regierung erarbeitet eine entsprechende Verordnung. Die Wohnsitzregelung halte man für sinnvoll, heißt es aus dem Integrationsministerium von Rainer Schmeltzer (SPD): „Sie kann verhindern, dass es zu Ballungen bestimmter Gruppen in wenigen Städten kommt.“
Dass Städte wie Essen oder Gelsenkirchen besonders beliebt bei Flüchtlingen sind, hat aus Sicht von Wissenschaftlern auch mit den dort bereits lebenden Nationalitäten zu tun. Sebastian Kurtenbach vom Bochumer Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR) erklärt: „Migranten ziehen eher in die Stadtteile, in denen Verwandte leben oder Menschen, die ihre Sprache sprechen.“
Auch Hani I. aus Syrien will ins Ruhrgebiet. Der 29-Jährige lebt seit zwei Jahren in einer Flüchtlingsunterkunft in Dresden. Wohl fühlt er sich da nicht: Er berichtet von rassistischen Sprüchen und Übergriffen, unter denen viele seiner Bekannten zu leiden hätten. Eine Chance, sich ein neues Leben mit Job, Wohnung und Familie in der sächsischen Hauptstadt aufzubauen, sehe dort kaum ein Flüchtling. „Wer seine Aufenthaltsgenehmigung bekommt, zieht weg“, sagt er. In den Norden oder in den Westen Deutschlands, „und oft auch ins Ruhrgebiet“.