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Wie sich NRW seit dem Brandanschlag in Solingen geändert hat

Wie sich NRW seit dem Brandanschlag in Solingen geändert hat

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Foto: dpa
1993 starben bei einem Brandanschlag fünf türkische Frauen und Mädchen. Zum Jahrestag demonstrierten am Samstag in der Stadt Hunderte Menschen gegen Fremdenhass. Der Anschlag hat die Politik in Deutschland verändert – erst recht in Nordrhein-Westfalen.

Düsseldorf. 

Als in der Nacht zum Pfingstsamstag 1993 das Zwei-Familien-Haus in der Unteren Wernerstraße 81 ausbrannte, wurde die bergische Mittelstadt Solingen binnen weniger Stunden zu einem weltweit beachteten Tatort des rechtsextremistischen Terrors.

Vier Jugendliche aus der Nachbarschaft, die zum Teil der Solinger Neonazi-Szene angehörten, hatten das von türkischstämmigen Familien bewohnte Haus an diesem 29. Mai vor 20 Jahren angezündet. Zwei Frauen und drei Mädchen starben, 14 weitere Menschen erlitten zum Teil schwerste Verbrennungen. Die Welle brauner Gewalt, die sich in Hoyerswerda, Rostock und Mölln dramatisch aufgebaut hatte, erreichte plötzlich Nordrhein-Westfalen.

„Wir waren wohl im Dornröschenschlaf“, räumte damals die Solinger SPD-Landtagsabgeordnete Erika Rothstein ein. Zwar hatten sich auch in NRW zu Beginn der 90er Jahre die rechtsradikalen Übergriffe, Schmierereien und Brandsätze gehäuft. NRW-Innenminister Herbert Schnoor (SPD) richtete bereits im November 1992 nach dem Möllner Anschlag eine „Sonderermittlungsgruppe Fremdenhass“ in allen Kreispolizeibehörden ein. Doch insgesamt wähnte sich NRW, wie es nicht nur Erika Rothstein empfand, „auf einer Insel des Friedens“.

Johannes Rau fuhr sofort los

Landes- und Bundespolitik rangen deshalb um eine angemessene Reaktion „auf Solingen“. Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) erreichte die Schreckensnachricht vom mörderischen Brandanschlag frühmorgens zu Hause in Wuppertal. Ohne auf seinen Fahrer und die Sicherheitsbeamten zu warten, fuhr er sogleich nach Solingen.

Beim Anblick des ausgebrannten Hauses, in dem Kinder so grausam zu Tode gekommen waren, habe er sich „resigniert und entmutigt“ die Frage gestellt, ob er überhaupt noch in der Politik bleiben solle. So hat sich die Witwe des 2006 verstorbenen späteren Bundespräsidenten, Christina Rau, in einem Interview mit dem Solinger Tageblatt erinnert.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) dagegen sorgte für internationales Aufsehen, als er ausrichten ließ, er plane keinen persönlichen Besuch in Solingen, weil er den „Beileidstourismus“ anderer Politiker ablehne. Außenminister Klaus Kinkel (FDP) flog zur Beisetzung der Opfer in die Türkei und bekannte dort „Trauer und Scham“. Bundespräsident Richard von Weizsäcker warnte gar vor einer „Gefahr für unsere Zivilisation“, weil die brandschatzenden Rechtsradikalen ja „nicht aus dem Nichts“ kämen. Doch welche politischen Konsequenzen waren aus dem ausländerfeindlichen Furor zu ziehen?

Die Solinger Katastrophe brachte die Diskussion über eine doppelte Staatsbürgerschaft in Gang, die jedoch bis heute nicht fruchtbar zu Ende geführt wurde. Der Direktor des Zentrums für Türkeistudien der Universität Essen, Prof. Haci-Halil Uslucan, bedauert das: „Das Recht kann bewusstseinsändernd wirken“, sagt er.

Seine Studien belegten, dass gerade viele türkischstämmige Bürger der zweiten und dritten Einwanderergeneration gerne die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen würden, wenn sie nicht den Pass des Landes ihrer Eltern und Großeltern gleichzeitig abgeben müssten. Die doppelte Staatsangehörigkeit könnte aus Sicht des Forschers integrationsfördernd wirken: „Der ethnische Hintergrund der hier lebenden Menschen würde nicht mehr so leicht in den Vordergrund gestellt werden können“, sagt Uslucan.

Die „Boot ist voll“-Debattenkultur der 90er Jahre erscheint heute weit weg

Auch der Vorsitzende des Landesintegrationsrates NRW, Tayfun Keltek, vermisst ein Gesetzeswerk mit Signalwirkung, das sich bis heute mit „Solingen“ verbinden würde. Eine Art integrationspolitisches „Jetzt erst recht“. Die Morde seien natürlich rechtsstaatlich korrekt aufgearbeitet und die Täter zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Politik und Zivilgesellschaft gedenken dieser Tage in 37 NRW-Kommunen und zahlreichen Mahnwachen, Theaterstücken, Filmen und Vorträgen der Opfer von vor 20 Jahren.

Die „Boot ist voll“-Debattenkultur der 90er Jahre erscheint heute weit weg. Doch für Keltek ist die „gesamtgesellschaftliche Bereitschaft anzuerkennen, dass wir eine multikulturell verfasste Einwanderungsgesellschaft sind“, noch immer unterentwickelt. Dass türkischstämmige Einwanderer selbst nach Jahrzehnten in Deutschland nicht einmal auf Kommunalebene mitwählen dürften, hält er für ebenso fatal wie die andauernde „Ethnisierung von Problemen“ in der öffentlichen Wahrnehmung.

Wie tief zudem das „Trauma Solingen“ in den Zuwandererfamilien der türkischen Gemeinschaft bis heute sitzt, hat Forscher Uslucan zuletzt im März beobachtet, als bei einem verheerenden Wohnhausbrand eine türkische Mutter und sieben ihrer Kinder ums Leben kamen. „Sofort wurde ein rechtsextremistischer Hintergrund vermutet, war die Angst wieder da“, so Uslucan. Wochen später stellte sich heraus, dass ein tragisches Versehen der Bewohner das Feuer ausgelöst hatte.

Demonstration zum Jahrestag

Kurz vor dem 20. Jahrestag des Brandanschlags haben am Samstag etwa 700 Menschen in Solingen gegen Ausländerfeindlichkeit demonstriert. Die Kundgebung hatte das Motto „Das Problem heißt Rassismus“.

Ein schlimmeres Zeichen der Fremdenfeindlichkeit sei kaum denkbar, sagte NRW-Integrationsminister Guntram Schneider in Erinnerung an den Anschlag. NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) forderte „eine Kultur des Respekts und des Miteinanders, eine Kultur der Anerkennung“. Dabei könnten die Schulen eine wichtige Rolle spielen. „In den Schulen kann interkulturelle Vielfalt gestaltet werden“, sagte Löhrmann. Schüler mit und ohne Zuwanderungsgeschichte sollten wechselseitig voneinander lernen. „Denn wenn wir uns kennen, verlieren wir Ängste und fühlen uns miteinander verbunden. Und mit dieser Verbundenheit nimmt Gewalt, auch rechte Gewalt, ab.“