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Mordanschlag von Solingen: Die Nacht, in der fünf Frauen und Mädchen sterben mussten

Mordanschlag von Solingen: Die Nacht, in der fünf Frauen und Mädchen sterben mussten

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Foto: dpa
  • Vor 25 Jahren passierte der Brandanschlag von Solingen
  • Fünf junge Frauen und Kinder starben bei der rechtsextremistischen Tat
  • Warum es heute wichtiger denn je ist, daran zu erinnern

Solingen. 

Normalerweise wäre jetzt Sportunterricht. Doch am Morgen des 29. Mai 1993 gibt es kein „normalerweise“. Etwas war passiert.

Der 29. Mai 1993 gehört zu den ersten Wo-warst-du-als-Momenten, an die ich mich bewusst erinnere. 25 Jahre ist es her, dass wir im Kreis in der Turnhalle saßen, statt Völkerball zu spielen. Und unsere Grundschullehrerin uns von der Stadt Solingen erzählte, wo in der Nacht fünf Menschen gestorben waren: Drei davon Kinder, wie wir.

Anschlag von Solingen: Erinnerung verblasst

Die Erinnerung an den Anschlag von Solingen beginnt zu verblassen. Inzwischen gibt es eine Generation von Erwachsenen, die erst danach geboren worden sind. Umso wichtiger ist es, dass jetzt noch einmal daran erinnert wird: In einer Zeit, in der eine rechtspopulistische Partei im Bundestag sitzt und es wieder Kreise gibt, in denen Fremdenhass salonfähig ist.

Welche mörderischen Folgen rechtsextremes Gedankengut haben kann, zeigt, was am 29. Mai 1993 in Solingen passiert ist.

Sie wollen töten in dieser Nacht

Es ist 1.30 Uhr in der Nacht. Alles ist ruhig in der Unteren Wernerstraße, auch in dem Haus mit der Nummer 81, in dem die türkische Familie Genç wohnt.

Vor dem Haus treiben sich vier Gestalten herum. Sie wollen töten, davon ist das Oberlandesgericht Düsseldorf später überzeugt.

Zwei von ihnen stehen Schmiere. Die anderen beiden machen sich an der Haustür zu schaffen: Christian R. kippt Benzin vor der Tür aus, sein Kumpel Felix K. hilft ihm. Die beiden sind gerade mal 16 Jahre alt – und werden bald Mörder sein.

Fünf Frauen und Mädchen können nicht flüchten

Sie zünden das Benzin an. Als die Flammen nach oben schlagen, plötzlich alles brennt, laufen sie weg. Auch ihre beiden Kumpanen, Markus G. (23) und Christian B. (20) rennen davon. Feige.

Fünf Frauen und Kinder im Haus können nicht flüchten: Die 18-jährige Hatice, die zwölf Jahre alte Gülüstan und die neunjährige Hülya ersticken. Sie verbrennen.

27-Jährige springt mit Kleinkind aus dem Fenster – und stirbt

Die 27 Jahre alte Gürsün versucht, sich und die vierjährige Saime zu retten: Sie springt mit dem Kind aus einem Fenster. Wenig später sterben sie an den schweren Verletzungen.

14 weitere Menschen, darunter Säuglinge und Kinder, werden zum Teil lebensgefährlich verletzt.

Warum? Wie ist das alles passiert?

Die Antworten der Täter

Ein paar Tage später kommen die ersten Antworten – die aber eigentlich nichts erklären. Am 4. Juni nimmt die Polizei nach intensiver Fahndung drei Verdächtige fest. Die drei jungen Männer gehören zur Neonazi-Szene in Solingen. Wenig später ermitteln die Beamten auch den vierten Täter.

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Das Geständnis eines der Männer zeigt: Frustration, Langeweile, blinder Hass, Dummheit und Zufall sorgten dafür, dass fünf Frauen und Mädchen sterben mussten.

Erst pöbeln sie, dann werden sie zu Mördern

Am Tatabend treiben sich drei der Verdächtigen in einer Schrebergartenanlage im Süden der Stadt herum. Musik und Partylärm haben sie wohl angelockt: Ein Polterabend wird gefeiert. Die jungen Männer haben getrunken. Zu viel, wie oft. Sie pöbeln und stören das Fest – bis der Wirt und mehrere türkische Männer sie aus dem Vereinsheim werfen.

Die jungen Männer sind wütend, das Testosteron kocht über. Das wollen sie sich nicht bieten lassen – und dann auch noch von einem Türken! Sie wollen Rache, sie wollen irgendwas kaputtmachen.

Sie streunen umher, treffen einen Kumpel. Zu viert schmieden sie einen Plan: Es soll brennen in dem Haus, in dem die Türken wohnen.

Alle vier Täter sind in Freiheit

Sie besorgen sich Benzin – und die Mordnacht nimmt ihren Lauf.

25 Jahre später leben alle vier Täter in Freiheit. Markus G. wurde vom Oberlandesgericht Düsseldorf wegen fünffachen Mordes und 14-fachen Mordversuchs zu einer Gefängnisstrafe von 15 Jahren verurteil. Die drei anderen bekamen Jugendstrafen: zehn Jahre.

Die Angehörigen der Todesopfer leiden bis heute. Manche der damals schwer Verletzten sind durch die Brandverletzungen und die Narben für immer gezeichnet.

Spirale des Hasses

Der Anschlag hat eine Spirale des Hasses in Gang gesetzt. Kurz nach der Tatnacht demonstrierten Tausende türkische Migranten in der Solinger Innenstadt. Es kam zu Ausschreitungen, Geschäfte wurden verwüstet.

In den folgenden Wochen sollte es immer wieder Krawalle und Gewalt geben. Rivalisierende türkische Gruppen und Mitglieder der rechtsextremen türkischen „Grauen Wölfe“ gerieten mit Deutschen aus der Autonomen-Szene und kurdischen Linken aneinander.

Es dauerte Monate, bis sich die Lage beruhigte.

Ausbruch der fremdenfeindlichen Stimmung

Der Mordanschlag von Solingen war der schreckliche Höhepunkt und Ausbruch einer fremdenfeindlichen Stimmung, die sich damals ausbreitete. Ein halbes Jahr zuvor hatte es einen ähnlichen Anschlag in Mölln gegeben und in Rostock und Hoyerswerda brannten Asylbewerberheime.

So wie im November 2017 in Brandenburg. Laut einer Statistik des Bundeskriminalamts gab es im vergangenen Jahr durchschnittlich fast jeden Tag einen Anschlag auf ein Asylbewerberheim. Die meisten der Taten hatten einen rechtsradikalen Hintergrund. Wie vor 25 Jahren in Solingen, als fünf junge Frauen und Mädchen starben. Ich möchte ihn nicht mehr erleben, den Wo-warst-du-als-Moment.