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Die Angst vor der Zukunft

Die Angst vor der Zukunft

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Foto: WAZ FotoPool/ Ralf Rottmann
Nur einer der sechs Gesamtschüler der Anne-Frank-Gesamtschule in Moers hat sich für eine Lehre entschieden. So wollen die Jugendlichen ihre Berufswahl auf die lange Bank schieben. Doch auch das Abitur ist kein Job-Garant.

Moers. 

Saskia möchte ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren oder aufs Berufskolleg, „was mit Kindern machen“. Marcel will unbedingt in die Oberstufe, „da habe ich lange drauf hingearbeitet.“ Dort sehen sich auch Jan und Andre. Anna-Lena denkt ans Abitur, wenn’s nicht klappt, dann möchte sie das Berufskolleg besuchen, „auf die Ernährungsschule und dann Fach-Abi.“ Gideon hat einen Ausbildungsvertrag in der Tasche, er wird KFZ-Mechaniker.

Am liebsten Mechatroniker

Für die Schüler der Anne-Frank-Gesamtschule in Moers liegen die Abschlussprüfungen noch nicht lange zurück, in vier Wochen lassen sie die 10. Klasse endgültig hinter sich. Und danach? Nur einer der sechs Schüler hat sich für eine Ausbildung entschieden, die Anderen drücken weiterhin die Schulbank. Dabei sind Lehrlinge gefragt wie nie. 88 187 Ausbildungsstellen stehen laut der Bundesagentur für Arbeit in NRW seit Oktober 2013 zur Verfügung, 4 409 Plätze mehr als noch im Vorjahr. Die Mädchen bewerben sich am liebsten als medizinische Fachangestellte, die Jungs suchen vorrangig eine Lehrstelle als Mechatroniker.

Ist eine Ausbildung nicht mehr so attraktiv wie die Chance, die schulische Laufbahn weiter zu verfolgen? Die Schüler nicken, einige zögerlich, andere energisch. Und Herbert Thielmann, Abteilungsleiter für die Klassen 8 bis 10, bestätigt den Verdacht. „Immer mehr Schüler greifen auf eine schulische Ausbildung zurück, Abi oder Berufskolleg.“ Das Verhältnis Schule – Lehrstelle sei an der Gesamtschule sonst ausgewogener. „An der mangelnden Vorbereitung liegt es nicht“, sagt Thielmann. Die Berufsvorbereitung startet ab Klasse 8, zwei Berufspraktika stehen auf dem Plan sowie regelmäßige Besuche im Berufsinformationszentrum und Gespräche mit Studien- und Berufswahlteams.

„Man hat Angst, die falsche Wahl zu treffen“, sagt Jan. „Es ist schwer, sich für einen Job zu entscheiden, und nachher wieder zu wechseln, wenn man nicht zufrieden ist“, ergänzt Marcel. Der 18-Jährige wählt deshalb das Abitur, möchte später vielleicht studieren, Chemiker oder Psychologe werden. Dennoch wartet er die 11. Klasse erst einmal ab, „gucken, wie’s läuft, eventuell umorientieren.“

Bei den Anderen hört es sich ähnlich an. Saskia setzt auf ein Jahr Freiwilligendienst, die Zusage steht noch aus, Plan B ist das Berufskolleg. Doch die 17-Jährige möchte raus aus Moers, einen Neuanfang. „Aus persönlichen Gründen.“ Und danach? „Mal weiterschauen.“ Vielleicht etwas mit behinderten Kindern, damit kennt sie sich aus, ihr Bruder ist zu 80 Prozent schwerbehindert. Anna-Lenas Zukunft entscheidet sich am 6. Juni, dann gibt’s Zeugnisse – und damit die gefürchtete Mathe-Note. Schafft die 17-Jährige die Fachoberschulreife mit Qualifikation, bleibt sie auf der Gesamtschule, „wie es dann weitergeht, weiß ich noch nicht.“

Auch Jan wartet auf seine Noten, möchte dann in die Oberstufe oder auf das kaufmännisch geprägte Mercator-Berufskolleg in Moers. Ob er das Abi schafft, weiß der 16-Jährige nicht, und wenn’s glatt läuft? „Mal schauen, irgendwas kaufmännisches.“ Andre (16) lässt sich alles offen, Abitur ja, aber dann? „Was ich werden möchte, weiß ich noch nicht. Man hat so viele Möglichkeiten.“

Die Auswahl, der riesige Wust an Entscheidungsmöglichkeiten sei es unter anderem, der die Jugendlichen zögern lässt. „Man hat Angst davor, dass man das, was man sich vorgenommen hat, dann doch nicht erreicht“, sagt Saskia. Abwarten, absichern, damit fahre man besser. Außerdem: „Abitur ist wichtig. Es sieht besser im Lebenslauf aus und man kann mehr damit anfangen“, meint Andre.

Stimmt. Stimmt aber auch nicht immer. Corinna (19) aus Schermbeck hat gerade ihr Abi am Berufskolleg Wesel gemacht, bereits seit dem Vorjahressommer bewirbt sie sich um eine Lehrstelle. „Ich will nicht unbedingt studieren, lieber praktisch arbeiten. Endlich ein bisschen Geld verdienen.“ Naiv ist sie nicht an die Sache herangegangen. „Ich habe mich auf neun verschiedene Berufe beworben, von der Bauzeichnerin über die Mediengestalterin bis zur Vermessungstechnikerin.“ Über hundert Bewerbungen geschrieben, ungezählte Prüfungen und Vorstellungsgespräche. Absagen, Absagen, Vertröstungen. Corinna war schwer genervt und leicht deprimiert. Bis Anfang dieser Woche eine Zusage kam. Endlich. Corinna hätte sich das niemals so schwierig, so ätzend vorgestellt. Egal, jetzt ist sie selig.

Ebenso wie Gideon. Er ist der Einzige der Gesamtschüler, der sich festgelegt hat, genau ein Bewerbungsschreiben hat er benötigt, dann war die Sache klar. Anfang der 10. Klasse hat der 16-Jährige ein Praktikum in einer KFZ-Werkstatt absolviert und verstand sich auf Anhieb gut mit dem Chef. Warum kein Abitur? „Die Arbeit hat mir gefallen. Ich arbeite gerne mit anderen Menschen zusammen und liebe Autos.“ Und wie sieht es in fünf Jahren aus? „Mal gucken.“

Viele Betriebe in der Region suchen jetzt Fachkräfte von morgen, also die Schulabgänger von heute. Sie müssen sich entscheiden: Beginne ich eine Ausbildung oder ein Studium? Was bringt ein freiwilliges soziales Jahr? Wie formuliere ich eine Bewerbung? Experten aus der Region beantworten diese Fragen bei einer Telefonsprechstunde, die wir mit Unterstützung der Ausbildungsoffensive der Bundesregierung und der Wirtschaft anbieten: Dienstag, 27. Mai, von 17 bis 19 Uhr. Die Anrufe sind aus dem dt. Fest- und Mobilfunknetz kostenfrei.

Elke Fink, Berufsberaterin Agentur für Arbeit Essen, und Friedhelm Schulz, Berufsberater für Abiturienten, Agentur für Arbeit Hagen, Schwerpunkte: Bewerbungen, Berufs- und Studienwahl, Auslandsaufenthalte, Tel. (0800) 200 3 200. Heinz-Jürgen Guß, stellv. Geschäftsführer Industrie- und Handelskammer Essen, Schwerpunkt: Ausbildung in kaufmännischen Berufen, Tel. (0800) 802 3 802. Maike Münster, Ausbildungsberaterin Handwerkskammer Düsseldorf, Schwerpunkt: Ausbildung in Handwerksberufen, Tel. (0800) 900 1 900. Sandra Warnick, Studienberaterin Universität Duisburg-Essen, Tel. (0800) 903 4 903.