„Goldies“ gegen Nazis – bei den singenden Helden von Geldern
„Die Goldies“ sind der ungewöhnlichste Seniorenchor Deutschlands. Ihr Anti-Nazi-Song wurde im Internet zum Hit. Aber sie haben noch mehr drauf.
Geldern.
Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ hat’s gebracht, der WDR , RTL, der „Stern“, n-tv und „Brisant“ haben über sie berichtet, Stefan Raab hat sie bei TV-Total geadelt, und – zeigt eine der Chordamen auf: „Gestern habe ich einen Anruf aus Italien bekommen, dort hat man uns auch im Fernsehen gezeigt!“ Von vergangenem Mittwoch an bis Donnerstagmittag, Stand 14 Uhr, wurde das Video der Gelderner „Goldies“ 403.000-mal auf YouTube angeklickt. 23 Senioren, keiner unter 70, singen gegen Rechts an – mit „Schrei nach Liebe“, dem über 20 Jahre alten und brandaktuellen Anti-Nazi-Hit der Punkband „Die Ärzte“. So viel Berühmtheit muss gefeiert werden – bei der ersten Probe nach dem ungeahnten Erfolg gab’s gestern Sekt für den wohl ungewöhnlichsten Rock- und Popchor Deutschlands.
Rustikal der kleine Proberaum der „Goldies“, der sich hinter einem Parkhaus in Geldern versteckt. Schlagzeug, Stehtische, Pop-Plakate an den Wänden, „Stairway to heaven“ steht auf einem, so heißt der wohl größte Song der Band Led Zeppelin.
„Englisch singen wir aber nicht“
Auf einem Hocker sitzt Marcel Grothues, der die singenden Senioren auf der Gitarre virtuos begleitet und sie in Sachen Auftritte managt. „Englisch singen wir aber nicht“, stellt Sänger Günther Bockstegers (78) klar: „Ich war lange in einem Männerchor, aber dann wurde immer mehr englisch gesungen, das hat mir nicht mehr gefallen.“
Doch dass er jemals in einem Chor landen würde, wo er Lieder von Udo Lindenberg, Xavier Naidoo oder „Wir sind Helden singen“ würde…? „Nee, das hätte ich auch nicht gedacht. Ehrlich gesagt, wenn so etwas im Radio lief, hab ich es ausgemacht!“ Und jetzt? „Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass die Lieder so viel Freude machen!“
Machen sie aber, man sieht und man hört es. Sportschuhe wippen, Köpfe recken sich, die Mienen sind konzentriert. Chorleiterin Rebecca Könen gibt den Einsatz, aus vollen Kehlen (und zweistimmig) erklingt „Mambo“ von Herbert Grönemeyer: „Ooooh, ich drehe schon seit Stunden, hier so meine Runden, es trommeln die Motoren, es dröhnt in meinen Ohren…“
Sechs Jahre ist es her, da starteten die Musiker Marcel Grothues und Rebecca Könen das Experiment „Goldies“ – per Zeitungsannonce wurden Sänger und Sängerinnen ab 70 gesucht, die Interesse an einem Ensemble für Rock- und Popsongs haben. „Ich wusste sofort, das müssen wir machen“, sagt Adolf Ott (74) mit dem flotten Käppi auf dem Kopf: „Ich dachte, wenn sich acht melden, ist es gut. Gemeldet haben sich aber 28“, erzählt er.
„Wir sind schließlich mit den Rolling Stones aufgewachsen, da passt doch gut, was wir jetzt singen“, ergänzt seine Frau Margret (73). Die beiden waren von Anfang an dabei, haben eine Menge Auftritte hinter sich. Zum Beispiel auf einem Ärztekongress in Münster, als Ehemann Adolf im Beisein der NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens als Solist den Rap-Song „Unterm Strich“ von Uwe Kaa zum Besten geben konnte: „Keine Kompromisse, keine Patt-Situation, keine Konkurrenz, kein Vergreifen mehr im Ton, keine Kriege, keine Siege, keiner der verliert, alle sind Gewinner, keiner da der das spürt…“ – Ott zitiert den Text aus dem Stegreif. Beim Kongress ging es übrigens um eine alternde Gesellschaft und den Umgang mit Demenz.
Marie-Luise Koxholt (75) hat die Songtexte fein säuberlich in einem Liederbuch abgeheftet. Den „König von Deutschland“ von Rio Reiser kennt sie aber auswendig, die meisten Sängerinnen und Sänger brauchen die Textblätter eigentlich nur, um etwas in der Hand zu haben. Auch den Ärzte-Song „Schrei nach Liebe“ haben sie schon zwei Jahre im Repertoire, und es hat seinen eigenen Charme, wenn Luise Koehnen, mit 86 die Älteste, aus voller Brust: „Arschloch“ intoniert.
Interpretation ist wichtiger als Notenkenntnis
Die „Goldies“ lernen ihre Songs ohne Noten, sie hören sich eine Original-CD an und singen nach. „Viele haben anfangs nach Notenblättern gefragt“, erzählt Chorleiterin Könen. „Aber Rock- und Popmusik ist eher eine Sache der Interpretation. Die Grundmelodie ist meist einfach, dann kommt es darauf an, was die Sänger daraus machen!“ Marcel Grothues ergänzt: „Es ist faszinierend, wie sich so ein Song verändert, wenn ihn jemand singt, den man so nicht erwartet hat.“
Die Probe schließt mit Xavier Naidoos „Sie sieht mich nicht“. Der 78 Jahre alte Günther Bockstegers singt es alleine, der Chor begleitet ihn. Eine hohe, kräftige, klare Stimme mit Patina: „Ein anderer als ich. Ich bin wenig königlich. Sie sieht mich einfach nicht“.