Der Lehrer Rudolf Brinkmann erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Traum. Seine Frau Charlotte pflegt ihn.
Duisburg.
Diese Geschichte ist voll von Traurigkeit, Hoffnung und Liebe. Und sie ist voller Mut. Charlotte Brinkmann (56) beugt sich über ihren Mann, umarmt ihn und redet auf ihn ein: „Buttergemüse nicht wahr, Rudi, und Kartoffelpüree mit Maggi, das magst du doch gerne…“ Dann schiebt sie ihm den Teelöffel in den Mund, wartet ab, beobachtet, ob er kaut, wann er schluckt. Seit vier Wochen ist Rudolf Brinkmann, 66 Jahre alt, pensionierter Mathe- und Physiklehrer, wieder zu Hause, fünf Monate hat er in Kliniken verbracht. Im Frühsommer war er gestürzt, mit dem Fahrrad, ohne Helm. Die Ärzte diagnostizierten ein Schädel-Hirn-Trauma. Stufe drei, schlimmer geht’s nicht.
Rudolf Brinkmann sitzt im beheizten Wintergarten seines Hauses in Duisburg-Walsum im Rollstuhl, die dünnen Beine stecken noch in den Schlaufen des Lifters, mit dem er neuerdings aus dem Bett gehoben wird. Schmal ist der einst so stattliche Mann geworden, blass das Gesicht. Aber die Augen sind gerade ganz wach und folgen dem Besuch; begeistert kommentiert die Pflegerin, dass er die Hand gedrückt und die Mundwinkel verzogen hat zu einem „Guten Tag“. Charlotte Brinkmann registriert jede Regung, jedes Zittern der Beine, der Hände. Weil der Versuch so anstrengend ist, selbst aus der Tasse zu trinken, nimmt sie seinen Arm: „So Rudi, hoch die Ellenbogen, nicht Mund zur Tasse, Tasse zum Mund…“.
In der Reha schon ganze Sätze gesprochen
Dann atmet sie mit ihm gemeinsam, damit er sich wieder beruhigt, tief ein und aus, streicht über seine Wange, nippt an ihrem Tee: „Es ist einfach schwer, herauszufinden, was er gerade möchte. Ich frage ihn, und es kommt keine Antwort. Oder sie kommt erst eine Weile später. Dabei hat er in der Reha schon ganze Sätze gesprochen. Aber die Ärzte sagen, das ist ganz normal, dass es immer auf und ab geht. Und dass wir Zeit brauchen, viel, viel Zeit.“
Nichts ist mehr so, wie es mal war, als es noch ein prallvolles Leben mit vielen Hobbys, dem Radfahren, dem Engagement für Greenpeace gab. Jetzt bestimmen die Hochs und Tiefs, die Rudolf Brinkmann durchsteht: Ob er die erforderlichen Kalorien durch die Magensonde oder den Mund zu sich nimmt, ob sein geschwächter Körper die Blasenentzündung verarbeiten kann – seit einem halben Jahr arbeitet sich Charlotte Brinkmann am Hoffen und Bangen ab.
Das hat sie schon in der ersten Woche nach dem Unfall gemacht. Zeitungsartikel aus dieser Woche hat sie aufbewahrt, bis heute ist sie überzeugt, dass sie einen Sinn ergeben: „Am 15. Juni war der Unfall meines Mannes. Am 17.Juni stand in der NRZ, dass Michael Schumacher aufgewacht ist. Am 18. Juni hat das Bundesverfassungsgericht eine Helmpflicht für Radfahrer abgelehnt. Einen Tag später sagten mir die Ärzte, dass mein Mann schwerer verletzt ist als befürchtet.“
Wieder einen Tag später lag die „Glückszeitung“, eine NRZ-Sonderbeilage voller guter Nachrichten, im Briefkasten. Zufall zwar, aber damals schrieb Charlotte Brinkmann spontan eine E-Mail an die Redaktion: „Am Tag meiner größten Verzweiflung habe ich eure wunderbare Sonderbeilage erhalten, das ist Balsam für meine Seele, Herzlichen Dank! Und bitte, bitte, setzt beim Radfahren immer einen Helm auf!“
Bitte, bitte, setzt beim Radfahren immer einen Helm auf
Es ist Sonntag, der 15. Juni, gegen Mittag. Charlotte Brinkmann will Bekannte besuchen, ihr Mann hat sich seine Radlermontur angezogen. Drei Stunden will der passionierte Tourenfahrer unterwegs sein, Richtung Schwarze Heide in Kirchhellen. Seine Frau ist nicht der Typ, der ständig aufs Handy schaut. Als sie abends heimkommt und sich wundert, dass Rudi um neun Uhr noch nicht wieder zu Hause ist, hört sie den Anrufbeantworter ab. Zwei Anrufe sind drauf – einer von der Polizei, einer aus der Unfallklinik Wedau.
Später wird sie es genau erfahren. Dass ihr Mann alles dabei hatte, was ein Tourenradler braucht, bis hin zur Kamera auf dem Lenkrad. Aber dass er keinen Helm an diesem Tag getragen hat.
Dass er den Elchweg nahe des Flughafens Schwarze Heide mit 37 Km/h abgefahren ist, einen Waldweg, der in einer Sandkuhle endet. Dort muss er gestürzt und mit der linken Kopfhälfte aufgekommen sein, bevor er auf die rechte Seite schlug und sich schwere Prellungen und Rippenbrüche zuzog. Spaziergänger fanden ihn, alarmierten den Notarzt und retteten ihm das Leben.
Künstliches Koma
Rudolf Brinkmanns linke Hirnhälfte schwillt so stark an, dass die Ärzte seine Schädeldecke öffnen. Der Druck würde ihn sonst umbringen. Um das traumatisierte Hirn zu schonen, wird er in künstliches Koma gelegt. Charlotte Brinkmann darf ihren Mann nicht einmal begrüßen, selbst als Komapatient registriert sein Gehirn die Reize und reagiert. Die Schädeldecke bleibt viele Wochen geöffnet, bedeckt von Haut und geschützt durch einen Spezialhelm. Erst viel später wird sie wieder geschlossen, mit einem Röhrchen versehen, welches überflüssiges Hirnwasser bis runter in die Bauchdecke ableitet. Nach OP und Reha und noch mal OP und wieder Reha wird er entlassen, als Unfallopfer mit der Pflegestufe Drei.
Dreimal am Tag kommt der Pflegedienst, sonst pflegt Charlotte Brinkmann. „Das muss man auch erst mal lernen“, sagt sie und stellt die Rückenlehne hoch, weil ihr Mann unruhig hin und herrutscht, um sie dann wieder herunterzudrücken, weil sein Kopf zu sehr nach vorne fällt. „Wenn ich an Weihnachten denke, denke ich daran, ob ich genug Sonden mit künstlicher Nahrung für die Feiertage habe.“
Dabei sei ihr Mann immer so aktiv gewesen, erzählt sie. Hat gegen Castor-Transporte demonstriert. Ist auf dem Greenpeace-Schiff Beluga 2 gefahren. Hat das Haus selbst umgebaut. War Lehrer aus Leidenschaft, der sogar eine eigene viel angeklickte Internetseite für Matheübungen und Physikaufgaben aufgebaut hat – Nachhilfe im Netz. „Das hat der Rudi nicht verdient“, sagen Freunde und Kollegen, die ihr beigestanden haben und es noch tun.
Der Glaube hilft
Charlotte Brinkmann ist Diplom Pädagogin. Und sie ist Buddhistin: „Ohne den Glauben, ohne die Gespräche mit meiner Lehrerin hätte ich es wohl nicht geschafft. Das gibt mir die Kraft, das Schicksal so anzunehmen, wie es ist. Alles, was geschieht, hat einen Sinn.“
Rudi Brinkmann ist eingeschlafen. Charlotte hat ihm ein Nackenkissen um den Hals gelegt. „Ich habe von einer Frau gehört, die hat drei Monate im Koma gelegen und nach weiteren drei Monaten konnte sie wieder sprechen. Ich weiß aber, das ist keine Garantie.“
Demnächst wird sie eine Pflegekraft ins Haus aufnehmen, um ihren Mann besser hochheben, an- und ausziehen zu können.
Und um mehr Zeit zu haben, Rudi zurückzuholen ins Leben.