Wurde ein Mädchen jahrelang von ihrer Mutter in der Wohnung eingesperrt? Dieser Frage gehen nun die Polizei und die Staatsanwaltschaft Siegen (NRW) nach.
Am 23. September haben die Polizei und das Jugendamt nach Zeugenhinweisen eine Wohnung in Attendorn (NRW) durchsucht. Dort fanden sie ein achtjähriges Mädchen. Laut den ersten Erkenntnissen der Ermittler soll sie ihr Zuhause nicht mehr verlassen haben, seit sie mindestens anderthalb Jahre alt gewesen ist. Ihre Mutter soll sie über Jahre hinweg weggesperrt und in der Wohnung versteckt haben.
NRW: Kind wird in Notpflegefamilie untergebracht
Es ist ein Fall, der schockiert und den man eher als Drehbuch eines grausamen Films verorten würde. Die Vorwürfe gegen die Mutter des achtjährigen Mädchens wiegen schwer. Fast ihr ganzes Leben lang soll ein kleines Mädchen nur die vier Wände und die verschlossene Tür eines Zimmers gesehen haben. „Viel von der Außenwelt kann das Kind daher bewusst nicht wahrgenommen haben“, sagt der ermittelnde Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss gegenüber dem „Sauerlandkurier“.
Nach eigenen Aussagen soll das Kind nie einen Wald gesehen, noch nie auf einer Wiese gewesen oder in einem Auto gefahren sein. Sie nehme alles als „so groß“ wahr, es gebe überall so viel Platz. Ende September sollte das traurige Schicksal des kleinen Mädchens eine Wende bekommen. Die Ermittler holten sie aus der angeblich jahrelangen Gefangenschaft und brachten sie in einer Notpflegefamilie unter. Es soll ein psychiatrisches Gutachten erstellt werden.
Der Achtjährigen gehe es den Umständen entsprechend gut. Bislang lägen keine Hinweise auf Misshandlungen oder Unterernährung vor. Das Mädchen könne sprechen und laufen, allerdings sei sie „kaum in der Lage, allein Treppen zu steigen oder Unebenheiten im Boden zu überwinden.“
NRW: Fall wirft bei Ermittlern Fragen auf
Die Mutter und die Eltern der Angeklagten schweigen zu den Vorwürfen. Die Eltern des Kindes hatten sich schon vor seiner Geburt getrennt. Der Vater habe die Kleine regelmäßig gesehen. Nach etwa einem halben Jahr, im Jahr 2014, habe ihn auf einmal die Nachricht erreicht, dass Mutter und Kind nach Italien ziehen würden. Den Behörden zufolge soll der Umzug nach Italien erst 2015 erfolgt sein. Die Frau habe auch ihre angebliche neue Adresse gemeldet.
Doch schnell sei der Vater misstrauisch geworden, wie es weiter heißt. Er habe die Mutter mehrfach kurz nach dem angeblichen Umzug in Attendorn gesehen. Doch die Frau und die Großeltern des Kindes gaben weiterhin an, dass die kleine Familie in Italien lebt. Die Post des Jugendamts soll an der angeblichen Adresse der beiden auch die ganze Zeit angekommen sein. Die Pakete des leiblichen Vaters kamen jedoch immer ungeöffnet zurück. Deswegen gab er die Hoffnung auf, den Kontakt zu seiner Tochter aufrechtzuerhalten.
NRW: Verwandter gibt entscheidenden Hinweis
„Man denkt ja, die Sozialkontrolle funktioniert da noch“, sagte Baron von Grotthuss gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Aber selbst die Nachbarn hätten nicht gewusst, dass Mutter und Kind im Haus gewesen seien.
Angeblich hätten das Jugendamt über Jahre hinweg anonyme Hinweise erreicht, doch die Mitarbeiter schöpften nie ausreichend Verdacht. Auch die Polizei war schon länger in den Fall involviert, hatte aber nie genügend Beweise gegen die Mutter für einen Durchsuchungsbefehl. Erst ein Verwandter aus Italien soll den entscheidenden Hinweis gegeben haben, dass Mutter und Tochter nie aus Attendorn fortgegangen wären.
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Doch erst mit einem richterlichen Beschluss seien die Beamten in die Wohnung gelangt, die Großeltern hatten ihnen den Zutritt verweigert. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sich die Mutter des Kindes und ihre Eltern in einem Strafprozess verantworten müssen. Laut dem „Sauerlandkurier“ stehen Freiheitsberaubung und/oder Misshandlung von Schutzbefohlenen im Raum.
Wie es mit der Achtjährigen aus Attendorn (NRW) weitergehen wird, ist unklar. Ihr Vater hoffe aber darauf, sein Kind nun richtig kennenzulernen, sie zu sich zu holen und ihr das zu ermöglichen, was ihr wohl jahrelange verwehrt blieb – „ein ganz normales Familienleben eben“. (mit dpa)