Im April 1945 fand im Oderbruch die letzte große Schlacht des 2. Weltkriegs statt. Heute ist die Vergangenheit an dem 60 Kilometer langen „Binnendelta“ noch immer überall präsent. Am besten erreicht man den Landstrich über den Oder-Neiße-Radweg.
Oderbruch.
Manchmal ist es, als kämpfe man sich durch grünen Grießbrei. Dick und zäh breitet sich der Teppich aus Entengrütze aus und man muss das Paddel wie einen Spaten einstechen, um das Kanu durch den Modder vorwärtszuschieben. Dann wieder hat sich eine alte Birke quergelegt: Reicht es, sich flach im Boot auszustrecken, oder heißt es wieder, das Kanu ein Stück flussaufwärts zu tragen? Eisvögel schwirren, ein Graureiher hebt ungelenk ab, ein Otter verschwindet blitzschnell im Schilf. Und von der Seite fällt streifiges Licht durch die Erlen an der Alten Oder bei Reitwein.
Ein Angler zeigt auf einen gesplitterten Baumstumpf: „Der hier ist jetzt auch gekippt. Ich weiß noch, wie 47 die Eisschollen in den Ästen hingen.“ 1947 – das war, als der Damm brach und das kriegsversehrte Land noch einmal übel gebeutelt wurde. So wunderbar erhaltene Streifen Natur wie hier gibt es zwischen den Maisäckern und Sonnenblumenfeldern des Oderbruch eher selten.
Die Vergangenheit ist immer präsent
Oderbruch, das klingt abenteuerlich und verwegen, nach ungezähmter Wildnis. Tatsächlich aber handelt es sich um eine nicht einmal besonders alte, dieser ungestümen Natur abgetrotzte Kulturlandschaft. Etwa 60 Kilometer lang und zwischen zwölf und 20 Kilometer breit erstreckt sich dieser flache, tief gelegene Landstrich entlang der Oder von Lebus im Südosten bis Bad Freienwalde im Nordwesten: Ein „Binnendelta“, durch das der beliebte Oder-Neiße-Radweg führt.
Die Vergangenheit ist hier überall und immer präsent. Denn so wie jetzt sieht das Oderbruch erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts aus. Von 1747 bis 1753 ließ Friedrich II. einen fast 20 Kilometer langen Kanal graben. Aus dem sumpfigen Land gewann man mittels eines ausgeklügelten Systems von Gräben und Dämmen 32.500 Hektar frisches Ackerland. 40 neue Dörfer entstanden. Siedler aus Sachsen, Schwaben und Hessen wurden angeworben. Aus Frankreich kamen Hugenotten. Das „Nationalgericht“ des Oderbruch, feines Hühnerfrikassee mit Spargel, Champignons und Sahne, erinnert noch heute an die frühen Feinschmecker.
„Wenn Preußen ruft, komm ich pflichtgemäß“
In Letschin leiert Wolfgang Bartsch, der Wirt des „Alten Fritz“, diese hundert Mal vorgetragene Geschichte gern noch einmal herunter. Noch lieber erzählt er aber, wie er 1986 die in der DDR ausrangierte Statue des Preußenkönigs in einer Nacht- und Nebelaktion wieder aufstellte. Jetzt steht sie direkt vor seiner Kneipe. Versteht sich von selbst, dass Bartsch „Rex-Pils“ aus Potsdam ausschenkt, seinen Kater „Fritze“ ruft, zwei Hinterzimmer voller Friedrichbüsten und -bilder gesammelt hat und die Bestellung mit einem zackigen „Wenn Preußen ruft, komme ich pflichtgemäß“ aufnimmt.
An einen späteren blutigen Abschnitt der Geschichte erinnert die Gedenkstätte Seelower Höhen: Hier fand im April 1945 die letzte große Schlacht des 2. Weltkriegs statt, bei der 33.000 sowjetische, 12.000 deutsche und 5000 polnische Soldaten starben. Die Panzer und Haubitzen, die Fotos der zerstörten Städte und die Gräber der blutjungen russischen Soldaten summieren sich zu einer eindringlichen Lehrstunde politischen Irrsinns.
Natürlich sind auch 50 Jahre DDR im Oderbruch präsent – bevorzugt in Form bröckelnder Mauern einstiger LPG-Schuppen. In Golzow aber erinnert darüber hinaus ein eigenes Museum an ein ganz besonderes Dokument des Alltags in der DDR: „Die Kinder von Golzow“.
Arbeit fehlt an allen Ecken und Enden
Elke Hinkelmann hat es nie bereut, die Kameras in ihr Leben gelassen zu haben: „Als Kind war man stolz. Der ganze Ort war stolz.“ Stolz darauf, dass der Regisseur Winfried Junge ausgerechnet das Oderbruch-Städtchen ausgewählt hatte, um ab 1961 das Leben von 26 frisch eingeschulten Kindern mit der Kamera zu begleiten. Eine Erfolgsgeschichte vom Aufbau auf dem Lande hatten die DDR-Oberen sich vorgestellt: Herausgekommen sind am Ende 19 Filme, die das Leben dieser Menschen mit all seinen Brüchen über Jahre zeigen. Der letzte wurde 2007 abgeschlossen. Fotos und Texttafeln dokumentieren die Lebensläufe, und wer will, kann sich im Vorführraum einen der Streifen ansehen.
Draußen wartet wieder die Gegenwart. Nur ein paar landwirtschaftliche Großbetriebe gibt es heute im Oderbruch, Arbeit fehlt an allen Ecken und Enden. Kein Wunder, dass die Jungen darauf brennen, in die Großstädte wegzukommen. Früher gab es sogar auch Bewegung in umgekehrter Richtung. Schon vor der Wende haben Aussteiger aus Berlin das Land mit den großen Grundstücken und den billigen Häusern für sich entdeckt. Ihre Kirschmarmeladen, Batikschals und Flickenteppiche verkaufen sie im Kunstspeicher von Friedersdorf. Dort finden sie unter filigranem Holzwerk auf fünf Etagen auch prächtige Ausstellungsmöglichkeiten.
Neue Ideen gesucht
Wer hier draußen zurechtkommen will, braucht neue Ideen: Der Fotograf Stefan Hessheimer etwa zeigt in seiner Galerie „Koch und Kunst“ nicht nur stimmungsvolle Fotos vom nebelverhangenen Fluss, er serviert den Besuchern auf Bestellung auch ein Süppchen aus dreierlei Tomaten und die pestogefüllte Hühnerbrust im Serranomantel.
Der letzte Ausflug geht noch einmal an den Fluss, der das Leben hier immer prägte: Die Silhouetten von Pappeln und ausladenden Weiden begleiten den Radfahrer.
Kleine Schilfinseln bremsen den Strom, ein Kiebitzschwarm sammelt sich, zwei Kraniche landen. So hoch der Himmel mit seinen scharf konturierten weißen Wolken sich über die Auen spannt, so tief spiegelt er sich in den überschwemmten Polderwiesen. Da ist es noch einmal: Das romantische, das wilde, das aufregend schöne Oderbruch. So wie es wohl war, bevor der olle Fritz sich ans Werk machte.