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Antonio Rüdiger: „Emotionen hätten mich fast meine Karriere gekostet“

Rüdiger: „Emotionen hätten mich fast meine Karriere gekostet

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Foto: dpa
Antonio Rüdiger über seinen Aufstieg aus armen Verhältnissen in Berlin bis zum 35-Millionen-Euro-Verteidiger beim FC Chelsea, erlernte Selbstbeherrschung und die Stärke des Löwen.

London. 

Im Londoner Vorort Cobham, wo noble Einfamilienhäuser stehen und der FC Chelsea hinter einem grünen Sichtschutz trainiert, sitzt Antonio Rüdiger in einem Lokal. Hier gibt es Vorzimmerdamen, Kellner mit Krawatten und Gäste, die mittags Champagner trinken. Dieser Ort ist wahnsinnig weit weg von der Sonnenallee. In Berlin-Neukölln ist Rüdiger aufgewachsen, als sich dort noch mehr Drogendealer als Hipster rumtrieben. Nun ist der 24-Jährige auf der Champager-Etage des Weltfußballs angekommen. Im Sommer wechselte er für 35 Millionen Euro vom AS Rom zum englischen Meister Chelsea, mit dem er am Samstag auf Stoke City mit dem Ex-Schalker Eric Maxim Choupo-Moting trifft (16 Uhr). Rüdiger ist einer der teuersten Verteidiger der Welt, aber sein Weg begann in bescheidenen Verhältnissen.

Herr Rüdiger, Sie haben mal gesagt, dass vieles in Ihrem Leben mit Ihrer Herkunft zusammenhängt. Deshalb lassen Sie uns darüber sprechen. Ihre Mutter stammt aus Sierra Leone.

Antonio Rüdiger: Ja. Vor einem Jahr bin ich zum ersten Mal auch dorthin gereist, als ich verletzt war. Ich wollte sehen, wie es den Menschen dort geht. Da erkennt man erst einmal, was wir, meine Familie und ich, heute für ein schönes Leben haben. Ich habe mir vorgenommen, mich in Sierra Leone zu engagieren. Man kann nicht wissen, wo man hingeht, aber man darf nie vergessen, wo man herkommt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin Deutscher und stolz darauf. Aber ich habe auch eine sierra-leonische Herkunft.

Ihre Mutter floh einst vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland. Hat Sie mal davon erzählt?

Rüdiger: Ich frage sie auch nicht. Denn ich kann mir denken, was das für schreckliche Erinnerungen in ihr wachrufen würde. Das war eine harte Zeit für meine ganze Familie.

Sie sind in Berlin geboren und aufgewachsen rund um die Sonnenallee in Neukölln. Wenn man da heute hingeht, ist das eine Hipster-Gegend. In Ihrer Jugend war das anders.

Rüdiger: Das war damals ein sehr hartes Umfeld. Das hat mich als Person geprägt. Ich bin nicht mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen. Wir waren arm. Dafür schäme ich mich nicht. Die schönen Sachen, die andere Kinder hatte, wollte ich auch haben. Aber das ging nicht. Ich hatte schon als Kind Verständnis dafür. Meine Mutter hat uns fünf Kinder allein groß gezogen. Damals habe ich mir das Ziel gesetzt, dass ich ihr eines Tages alles bieten kann. Das habe ich erreicht, und das macht mich glücklich.

Sie haben Ihre Freizeit in Neukölln in einem Fußballkäfig verbracht. Was lernt man dort fürs Leben und über den Fußball?

Rüdiger: Entweder du frisst, oder du wirst gefressen. Im Käfig ging es immer hart zur Sache. Jeder hat es gehasst zu verlieren. Und oft wurden dort die Emotionen auch nicht im Griff gehalten. Dann wurde es schwierig. Ich habe so gelernt, mich gegen Widerstände durchzusetzen.

Gab es Momente, in denen Ihr Weg Sie auch auf die schiefe Bahn hätte führen können?

Rüdiger: Bei einem meiner guten Freunde von damals ging es in die falsche Richtung. Ich wollte auch zu den coolen Jungs gehören, aber ich bin immer klar im Kopf geblieben, bin zur Schule gegangen und zum Training. Ich wusste: Jeder entscheidet selbst darüber, welchen Weg er einschlägt.

Es gibt die Geschichte, dass Ihnen ein Polizist den richtigen Weg gewiesen habe. Er war Ihr Jugendtrainer bei Hertha Zehlendorf.

Rüdiger: Meine Familie und ich haben dafür gesorgt, dass ich diesen Weg gehen konnte. Sicher, mein damaliger Trainer Markus Plog war gut für mich. Aber: Dass ich heute hier bei Chelsea spiele, habe ich meiner Mutter und meinen Geschwistern zu verdanken. Sonst niemandem.

Würden Sie sagen, dass Ihre Herkunft aus schwierigen Verhältnissen Sie als Fußball geprägt haben? Zu Beginn Ihrer Karriere wirkten Sie oft ungestüm, wütend auch, haben oft über die Grenze hinaus gespielt.

Rüdiger: Definitiv. Ich habe früher viel aus den Emotionen gehandelt. Das hätte mich fast meine Karriere gekostet. Ich wäre fast in eine Rambo-Schublade geraten. Aber ich habe bewiesen: Wenn ich es will, kann ich mich beherrschen.

Wie haben Sie das hinbekommen?

Rüdiger: Ich habe mir zunächst mentale Hilfe geholt, aber schnell gemerkt, dass mir das nichts bringt. Ich habe dann sehr viel mit meinem Bruder, Sahr Senesie, gesprochen, der ja Profi beim BVB war. Und mit meiner Mutter. Ich habe gelernt, dass man sich manchmal auch einfach umdrehen und gehen muss, wenn es Konflikte gibt. Das kannte ich nicht. Seitdem geht es.

Was hat Ihnen Ihre Mutter gesagt?

Rüdiger: Sie sagte: Gott sieht alles. Und das hat mir geholfen.

Irrt man, wenn man behauptet, dass der Fußballer Antonio Rüdiger erst nach dem Wechsel zum AS Rom gereift ist?

Rüdiger: Italien hat mein Spiel beruhigt. In Deutschland habe ich viel im physischen Bereich gearbeitet, aber weniger im taktischen. Ich habe jedoch irgendwann gemerkt, dass ich taktisch bessere Fähigkeiten brauche, um auf das Level zu kommen, wo ich hin wollte: auf die Ebene von Jerome Boateng, Mats Hummels, oder Sergio Ramos. Mein Trainer beim AS Rom, Luciano Spalletti, hat mich taktisch sehr nach vorn gebracht.

Nun arbeiten sie bei Chelsea wieder mit einem italienischen Trainer zusammen, Antonio Conte. Auch er gilt als taktikbesessen.

Rüdiger: Conte ist in allem sehr akribisch. Er war schon als Spieler ein harter Arbeiter, und das ist er auch als Trainer. Was die Defensivarbeit angeht, ist er einer der besten Trainer der Welt.

Haben Sie sich mal die Augen gerieben, als Sie gesehen haben, dass Chelsea für Sie mindestens 35 Millionen Euro bezahlt hat?

Rüdiger: Ja, da denkt man schon: Wow. Da gingen mir viele Dinge durch den Kopf. Ich habe an die alte Zeit in Neukölln zurückgedacht, als wir nicht viel hatten. Aber man muss das auch so betrachten: Das ist der Markt, und das hat am Ende mit uns Spielern nichts zu tun.

Wie ist das, wenn man plötzlich in der Kabine neben Francesco Totti sitzt wie in Rom, oder nun neben Cesc Fabregas bei Chelsea?

Rüdiger: Das ist schon irre. Mit Totti habe ich früher noch auf der Playstation gespielt. Oder Daniele De Rossi. Er saß in Rom direkt neben mir und wir sind abends oft zusammen essen gegangen. Als ich zu Chelsea gewechselt bin, hat er mir geraten: Genieße es einfach!

Und, genießen Sie es? Es läuft bei Chelsea ja recht gut für Sie.

Rüdiger: Ich bin sehr glücklich. Ich habe immer von der Premier League geträumt, schon als kleiner Junge. Mein Start hier war gut, aber es geht noch besser.

Haben Sie auch mit dem Bundestrainer über Ihren Wechsel gesprochen?

Rüdiger: Nein, dafür war keine Zeit. Es bahnte sich während des Confed-Cups an, und ich wollte mich nur auf das Turnier konzentrieren.

Sie haben die EM sehr kurzfristig wegen eines Kreuzbandrisses verpasst. Wenn man das erlebt hat, wie schaut man dann auf die anstehende WM?

Rüdiger: Ich habe mir nach dem Kreuzbandriss bewiesen, dass ich zurückkommen kann. Die Zeit war schwierig, aber sie hat mir auch etwas gegeben. Ich war in Sierra Leone. Das hat meinen Blick auf die Welt komplett gedreht. Dort habe ich meine Mitte gefunden. Mein Ziel ist es, irgendwann die WM zu gewinnen. Dann will ich mit dem Pokal nach Berlin fliegen und ihn dort in meiner Heimatstadt in die Luft stemmen, so wie es Jerome 2014 gemacht hat. Ich denke, das ist auch möglich.

Warum sind Sie in Ihrer Jugend eigentlich nie bei Hertha BSC gelandet, so als Talent in Berlin?

Rüdiger: Ich war damals kein Talent. Ich bin nicht aus der Masse herausgestochen. Gott hat mir eine Gabe mit auf den Weg gegeben, und das ist Mut. Damit habe ich mich nach oben gearbeitet. Es gab viele, die mehr Talent hatten als ich.

Sie haben zum Beispiel mit John Brooks zusammen in der C-Jugend bei Hertha Zehlendorf gespielt.

Rüdiger: Damals waren wir beide noch Stürmer. Ich links außen, er in der Mitte. Das muss man sich mal vorstellen. (lacht)

Haben Sie hier in London eigentlich schon einen Zoo gefunden? Sie haben mal gesagt, Sie studieren gern den Löwen.

Rüdiger: Ich hatte noch keine Zeit, aber das werde ich tun. Der Löwe interessiert mich wirklich. Ich setze mich dann vor seinen Käfig und beobachte ihn. Er ist so mächtig, er hat eine Aura. In ihm sieht man nur Stärke – und keine Schwäche. Er hat keine Angst.

Nehmen Sie sich das als Leitbild?

Rüdiger: Das soll mein Naturell sein. Egal, wer vor mir steht, Angst werde ich nie haben. Das durfte ich im Käfig in Neukölln schon nicht, und jetzt bei Chelsea auch nicht.

Gegen manche Dinge kommt man trotzdem nur schwer an. Sie wurden bereits mehrfach Opfer von Rassismus in ihrer Karriere.

Rüdiger: Ich kannte das schon in meiner Kindheit. Da gab es solche Worte wie „Neger“. Und damals habe ich anderes reagiert als heute. Aber wenn ich heute darüber nachdenke, war ich dadurch nicht besser als die Leute, die mich so genannt haben. Ich finde, wir müssen einfach besser sein, damit es das nicht mehr gibt. Wir haben bald 2018. Warum können wir nicht alle in Frieden leben und jeder macht sein Ding?