Der Dortmunder Jürgen Oelker pfeift Fußballspiele auf Asche und schult Kollegen. Obwohl er schon in jungen Jahren Opfer von Gewalt wurde – an einem Oktobersonntag 1998 bei einem Kreisliga-Derby in Lünen.
Dortmund.
Es wäre nicht verwunderlich, wenn er noch an Spätfolgen leiden würde. Wenn er lebenslang traumatisiert wäre. Wenn ihm die Boten der Angst so viele schlimme Erinnerungen ins Ohr flüstern würden, dass er sein Hobby aufgeben müsste. Aber erstaunlicherweise sagt Jürgen Oelker einfach nur: „Es ist alles abgehakt. Gott sei Dank.“
Jürgen Oelker, 34 Jahre alt, Familienvater aus Dortmund, leitet als Schiedsrichter Spiele in den unteren Ligen, seine Fußballwelt ist aus Asche. Und weil er „immer schon Spaß daran hatte, Dinge zu verbessern“, hat er sich auch noch in ein Amt wählen lassen: stellvertretender Kreis-Schiedsrichterobmann – klingt sperrig, ist aber ein praxisnaher Job. Der Funktionär Oelker bildet Unparteiische aus.
Vor zwei Monaten ist er in einem Interview zum Thema Gewalt auf Fußballplätzen befragt worden. Nicht nur im Kreis Dortmund hatte es zu dieser Zeit mehrmals gekracht, einmal wurde auch ein Schiedsrichter zum Opfer. Jürgen Oelker erzählte, dass er an Schulungsabenden vielen verängstigten Kollegen begegnet sei. Und dass ihm kaum mehr bliebe, als zu Ruhe und Besonnenheit zu raten.
Dabei hätte er von üblen eigenen Erfahrungen berichten können. Von einem Horror-Erlebnis, das damals, vor 13 Jahren, auch überregional Aufsehen erregte. Es sagt einiges aus über Jürgen Oelker, dass er sich selbst zurücknehmen will; dass er seine bei diesem Thema bedeutsame Vergangenheit verschweigt.
Gejagt und getreten
Als Fußballer war ihm früh die Erkenntnis gekommen, dass er es nicht allzu weit bringen würde. Aber pfeifen durfte er schon mit 21 in der Landesliga, die Sprossen auf der Karriereleiter hatte er im Spurt genommen. An einem Oktobersonntag 1998 leitete er ein Kreisliga-Derby in Lünen, und es schien wieder alles glatt zu laufen. Eine Mannschaft führte 4:1, hatte den Sieg vor Augen – kam dann aber vom Weg der Souveränität ab. Dem Gegner wurden drei Elfmeter zugesprochen, die Turbulenzen nahmen zu, das führende Team verlor zuerst vier Spieler durch Platzverweise und dann auch das Spiel: mit 4:5.
Nach dem Abpfiff knallten die Sicherungen durch. Spieler und Anhänger der unterlegenen Mannschaft jagten den Schiedsrichter, der so schnell rannte, als hätte er Mike Tyson ein Weichei genannt. Dem Tritt eines Spielers aber konnte Jürgen Oelker nicht ausweichen, er krachte gegen die Bande, und dann hatten sie ihn. Die Beleidigungen ließen darauf schließen, dass diese Leute statt einer guten Kinderstube ein Ausbildungscamp in der Vorhölle genossen haben mussten. Einer würgte den am Boden Liegenden, mehrere traten zu. Erst die Polizei befreite Jürgen Oelker, er wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Diagnose: Prellungen an den Nieren, am Rücken, am Knie – zum Glück nicht noch Schlimmeres.
Den Tiefschlag auf die Seele steckte der Gedemütigte ungewöhnlich schnell weg. Von diesen Fehlgeleiteten wollte er sich nicht unterkriegen lassen, er war Schiedsrichter aus Leidenschaft und entschloss sich dazu, dies auch zu bleiben.
Im Beruf zufrieden
Natürlich war er anfangs verunsichert, als er die Pfeife wieder zur Hand nahm, ehrlich hinterfragte er seine Leistung: „Ich hatte auch später noch das Gefühl, dass die nicht rund war, sonst wäre so etwas nicht passiert.“ Er hatte sich zwar streng ans Regelwerk gehalten, spürte aber, sich im Ermessensspielraum nicht clever genug bewegt zu haben.
Der Vorfall wirkte jedoch nicht lange nach. „Ich war schnell wieder im üblichen Trott.“ Jürgen Oelker scheiterte zwar bei zwei Anläufen auf höhere Ligen, er glaubt aber nicht, dass ihm dabei die Ereignisse von Lünen den Weg versperrt haben könnten. Damals, verrät er, hätte er es sich „um jeden Preis“ gewünscht, bis in den Profifußball durchzustarten. Heute bilanziert er: „Ich bin froh, dass es nicht so gekommen ist.“ Er zieht es vor, „fest im Berufsleben zu stehen“, als Versicherungskaufmann in leitender Funktion.
Warum er sich das noch antut, dieses ewige Sündenbockspielen in den von Filigranarbeit nicht übervollen Klassen? „Es ist immer noch mein Sport“, sagt er mit überzeugender Selbstverständlichkeit. Zudem glaubt Jürgen Oelker, dass er es ohne die sportlichen Erfahrungen im Beruf nicht so weit gebracht hätte. „Schiedsrichter zu sein, das prägt“, meint er. „Man ist Führungskraft für mindestens 22 Leute mit völlig unterschiedlichen Charakteren.“ Die meisten seien zum Glück grundvernünftig. Er weiß aber auch: Einige werden sich immer daneben benehmen. Menschen, die glauben, sie müssten einen Hund abgeben, wenn sie um eine Spende fürs Tierheim gebeten werden, sind argumentativ nur schwer zu erreichen.
Statistisch selten
Den Nachwuchs, den er als Lehrwart vorbereitet, schont er nicht. „Wir sagen schon in der ersten Stunde: Schiri zu sein, das heißt nicht nur, umsonst beim BVB reinzukommen, sondern häufig auch, mit unangenehmen Vorkommnissen kämpfen zu müssen.“ Und Lob ist seltener zu erwarten als Schnee im Juli. „Wenn keiner etwas sagt, dann weiß der Schiri, dass er gut war.“
Manchmal, wenn es wie in diesem Herbst vermehrt Ausschreitungen gegeben hat, gehen dem Lehrwart die Begründungen aus bei dem Versuch, junge Leute für die Aufgaben des Schiedsrichters zu begeistern. Er sagt ihnen, die extremen Fälle seien statistisch gesehen immer noch äußerst seltene Ausnahmen. Er sagt ihnen nicht, dass die Statistik ihm selbst nicht half. „Ich will nicht, dass sie denken: Jetzt wärmt er seine alten Geschichten auf“, erklärt Jürgen Oelker. „Und was damals passiert ist, liegt wirklich weit hinter mir.“