Schiedsrichter Kinhöfer hat den Griff zur Pfeife nie bereut
Thorsten Kinhöfer aus Herne ist ein erfahrener Unparteiischer auf höchstem Niveau. Er leitet Spiele aus Leidenschaft, obwohl es nie Lob und oft Kritik gibt. Wenn er sich im Fernsehen sieht, wundert er sich.
Herne.
Thorsten Kinhöfer wusste, dass er sich mal wieder unbeliebt machen würde, aber er konnte nicht anders. Es liefen die letzten zehn Minuten des Bundesligaspiels zwischen dem VfL Wolfsburg und dem Hamburger SV, zehn Minuten, in denen es ruppiger, unfairer, turbulenter zuging als in den 80 Minuten zuvor. Thorsten Kinhöfer griff durch, er schickte in dieser Schlussphase der Partie im März 2008 vier Profis vom Platz, je zwei aus beiden Mannschaften. Zweimal Gelb-Rot, zweimal Rot: Da beklagten sich nach dem 1:1 gleich beide Trainer, der Wolfsburger Felix Magath und der Hamburger Huub Stevens, über die ihrer Sicht zu strenge Regelauslegung des Schiedsrichters.
Thorsten Kinhöfer zweifelt auch heute noch nicht daran, damals richtig gehandelt zu haben. „Ich kann doch nicht sagen: Jetzt hatten wir schon zwei Platzverweise, also darf ab sofort getreten werden, bis der Arzt kommt“, erklärt der Herner. „Man könnte theoretisch auch den Weg des geringsten Widerstandes gehen, über eine nicht gegebene Rote Karte wird weniger gesprochen als über eine gegebene. Aber dieser Weg ist nicht mein Weg.“
2006 wurde Kinhöfer Fifa-Schiedsrichter
44 Jahre alt ist Thorsten Kinhöfer, der Leiter der Abteilung Controlling der Stadtwerke Herne zählt zu den erfahrenen Unparteiischen. 2002 leitete er sein erstes Bundesligaspiel, 2006 stieg er in den elitären Kreis der Fifa-Schiedsrichter auf. Oft hat er es erlebt, als Sündenbock herhalten zu müssen, und noch öfter hat er nach einer guten Leistung kein lobendes Wort gehört oder gelesen. Er hat sich daran gewöhnt, dass Ignoranz ihm gegenüber die maximale Form von Anerkennung bedeutet. „Niemand sagt: Mensch, Schiri, fünf richtige Entscheidungen in kniffligen Situationen – super“, sagt er. „Wenn die Leute hinterher nicht mehr wissen, wer da überhaupt gepfiffen hat, dann weiß ich, dass es für mich klasse gelaufen ist. Gefeiert wird man nie.“
Trotzdem hat er im Laufe der Jahre nie die Motivation verloren, trotzdem treibt ihn die Leidenschaft weiter an: „Ich habe immer noch Spaß daran, ein Spiel zu leiten“, sagt der Mann, der sich selbst als „Gerechtigkeitsfanatiker“ beschreibt. „Es ist reizvoll, mit 22 verschiedenen Charakteren umzugehen und dabei zu versuchen, fehlerfrei zu bleiben.“
Disput mit Hannovers Trainer Mirko Slomka
Konsequenz ist ihm wichtig, er bietet seine Nase nicht als Tanzfläche an. Kürzlich ist er beim 2:2 zwischen Nürnberg und Hannover mit 96-Trainer Mirko Slomka aneinander geraten, nach heftigen Protesten – Kinhöfer spricht von „Respektlosigkeit“ – durfte Slomka das Spiel von der Tribüne aus weiter verfolgen. Die TV-Kameras zeigten zuerst den Trainer, der sich schimpfend und abwinkend einen neuen Platz suchte, und dann den Schiedsrichter. Thorsten Kinhöfer sah nach diesem Disput aus, als wäre er gerade mit neuen Schuhen in frischen Teer getreten: grimmig, missmutig, abweisend, unzugänglich. Wer ihn nicht besser kennt, würde ihm nicht zutrauen, bei einer Casting-Show für Sympathieträger die erste Runde überstehen zu können.
„Ich erschrecke mich manchmal selbst, wenn ich sehe, wie angespannt ich bei einem Spiel rüberkomme“, sagt er. „Dabei bin ich eigentlich ein lockerer Typ, der für jeden Spaß zu haben ist.“
„Wo es um Arbeitsplätze geht, geht die Lockerheit verloren.“
Schiedsrichter der Neuzeit stehen unter Strom, TV-Scharfrichter fällen mit Hilfe von Kameras aus allen Blickwinkeln Urteile über sie. Auf der Strecke geblieben ist dadurch die Unbefangenheit aus den seligen Zeiten der Ahlenfelders oder Eschweilers, die Konfrontationen mit Spielern gerne mal durch lockere Sprüche entkrampften. „Dieser Umgang ist heute undenkbar“, sagt Thorsten Kinhöfer. „Die Spieler haben sich auch verändert. Die sagen dann schnell: Wie reden Sie eigentlich mit mir?“ Kinhöfer kennt die Wurzel des Übels: „Fußball ist heute ein Geschäft, früher war einfach nicht so viel Geld im Spiel. Wenn ein Verein absteigt, hat das enorme Auswirkungen auf das gesamte Wirtschaftsunternehmen. Wo es um Arbeitsplätze geht, geht die Lockerheit verloren.“
„Jeder Spieler fängt bei null an“
Stattdessen ist Nervenstärke gefragt. „Man darf nie den Fehler machen, Emotionen freien Lauf zu lassen“, erklärt Kinhöfer. „Es geht um die Sache, nicht um Personen. Auch wenn einer als Schwalbenkönig oder Treter bekannt ist, darf ich keine Vorbehalte gegen ihn haben. In meinem Spiel fängt jeder Spieler wieder bei null an.“
Natürliche Autorität ist das Ideal, der kleine Schritt hin zur Arroganz die Gefahr. „Ein schmaler Grat“, bestätigt der Routinier. „Ich kann nicht der Freund aller Spieler sein und für jeden eine Sprechstunde abhalten. Mancher wird das als Arroganz deuten.“ Als Einmeterzweiundneunzig-Mann erwirbt sich Thorsten Kinhöfer schon optisch Respekt, er hält das für einen Vorteil. Aber er sagt auch: „Die Länge nützt nichts, wenn nicht die Größe hinzukommt.“
Mit 16 Jahren versuchte sich der gebürtige Wanne-Eickeler erstmals als Schiedsrichter, und als er merkte, dass er es als Torwart „hoch geschätzt maximal bis zur Landesliga“ hätte schaffen können, zog er die Alternative durch. „Die Entscheidung gegen die Handschuhe und für die Pfeife habe ich nie bereut“, sagt er.
Derby in Saudi-Arabien geleitet
Er macht das alles wirklich gern: Neulich düste er mitten in der Woche nach Saudi-Arabien, weil der nationale Verband einen ausländischen Schiedsrichter für das emotional aufgeladene Derby zweier Vereine aus Riad angefordert hatte. Und an einem freien Sonntag ist er auch schon mal auf einem Dorfsportplatz zu sehen, weil er gebeten wird, in der Westfalenliga einen Nachwuchs-Schiedsrichter zu begutachten.
Jungen Menschen rät er nach wie vor zur Schiedsrichter-Laufbahn. „Man lernt, sich auch bei Gegenwind durchzusetzen“, erklärt er. „Ein Spiel zu leiten fördert die Persönlichkeit, es ist ein wunderbarer Weg, um zu reifen, und das hilft auch im privaten Leben.“ Weil in den unteren Klassen „die Aggressivität zugenommen hat und Grenzen überschritten wurden“, versteht Thorsten Kinhöfer aber auch, wenn sich junge Schiedsrichter fragen, warum sie sich das eigentlich antun. „Ich selbst“, betont er, „habe mir diese Frage nie gestellt.“