Westerwald.
Rudi Gutendorf kommt in kurzer Hose die Terrassentreppe seines Hauses im Westerwald herunter, wo er mit seiner australischen Frau Marika (54) und Sohn Fabian (26) lebt. Die Augen des legendären Fußballtrainers glänzen, der Geist ist hellwach. Nicht selbstverständlich bei einem Mann, der an diesem Dienstag 90 Jahre alt wird. Der Fußball-Weltenbummler steht im Guinness-Buch der Rekorde: 55 Trainer-Stationen in 30 Ländern – das hat kein anderer geschafft. Der 90. Geburtstag wird in Koblenz im Stadion Oberwerth gefeiert. Mit einem Empfang und einem Testspiel zwischen TuS Koblenz und Fortuna Köln.
Herr Gutendorf, Sie werden stolze 90. . .
Rudi Gutendorf: . . . ja, leider!
Würden Sie die Zeit gern zurückdrehen?
Natürlich. Ich habe von Kindesbeinen an den Fußball geliebt. Und die Rastlosigkeit, in der Welt unterwegs zu sein.
Ihren größten Erfolg haben Sie aber ausgerechnet in Duisburg gefeiert.
Das stimmt. Der MSV hatte 1963 eine Meidericher Straßenmannschaft, die Vizemeister in der ersten Bundesligasaison geworden ist. Mit Weltmeister Helmut Rahn von Rot-Weiss Essen, dem Boss. Mit ihm hatte ich auf der Trabrennbahn in Dinslaken ein Rennpferd, um das er sich täglich gekümmert hat. Mein Trick, um ihn etwas aus den Kneipen fernzuhalten. Meinen Trainervertrag habe ich mit dem Vorstand auf die Rückseite einer Speisenkarte geschrieben. Hinterher wollte niemand etwas davon wissen, dass ich eine Vizemeisterprämie ausgehandelt hatte.
Haben Sie das Geld bekommen?
Mit Hängen und Würgen. Der MSV hatte kein Geld und wollte auch die 30 000 Mark nicht zahlen. Damals gab es keine großen Sponsoren oder Fernsehgelder.
Mit Ihrer Riegel-Taktik waren Sie ein Trendsetter: der Riegel-Rudi.
Wir haben mit Angreifern verteidigt und mit Außenverteidigern gestürmt. Den anderen ist dazu nicht viel eingefallen.
Auf Schalke haben Sie 1968 zum Einstand mal Reinhard Libuda und Kollegen morgens um 5.30 Uhr an den Zechen vorbeilaufen lassen.
Wir wollten ein Zeichen setzen, die Kumpel davon überzeugen, dass ihre Schalker Jungs alles geben. Schalke war großartig. Ich habe das Team auf dem letzten Tabellenplatz übernommen, dann in den Europapokal bis ins Halbfinale gegen Manchester City geführt.
Wie schwer war es, mit einem Präsidenten wie Oscar Siebert auszukommen, der sich in sportliche Belange einmischte?
Ach, Oscar war nur eifersüchtig, dass ich andauernd in den Zeitungen stand, er nur einmal im Monat. Das hat für Spannungen gesorgt.
Und Sie mussten nach zwei Saisons gehen.
Ich bin ja selten länger als zwei Jahre irgendwo geblieben, wollte immer etwas Neues machen.
Ihre Zeit beim HSV 1977 war weit weniger erfolgreich.
Es war sogar mein größter Fehler der Karriere. Ich war ein blöder Hund, habe ignoriert, dass der damalige HSV-Manager Dr. Peter Krohn ein Verrückter war. Dazu hat mich die Mannschaft sabotiert. Ich habe Kevin Keegan aus Liverpool geholt, an dem der HSV später eine Menge Spaß hatte. Doch Kaltz, Nogly, Magath hatten gerade den Europacup gewonnen, wollten Keegan nicht, wollten mich nicht.
Sie waren auf allen fünf Kontinenten als Trainer tätig. Wo war es wirklich gefährlich?
In der Endphase in Chile. Ich war 1973 ein Sympathisant des sozialistischen Staatspräsidenten Salvador Allende, habe mit ihm in Vina del Mar Whiskey getrunken. Als das Militär unter General Augusto Pinochet die Revolution ausrief, musste ich fliehen. Die deutsche Botschaft hat mich rausgeholt. Selbst das Leben eines Nationaltrainers, der mit seiner Mannschaft kurz vor der Qualifikation für die WM 1974 steht, ist in einer solchen Situation nicht viel wert. Im Nationalstadion, wo ich gearbeitet hatte, wurden nun Leute erschossen.
Ist man verrückt, wenn man die traumhafte Karibik-Insel Grenada gegen ein Engagement bei Tennis Borussia Berlin tauscht?
Nein, fußballerisch bietet die Karibik keine große Spannung. Da wird man braun und geht viel schwimmen. Tennis Borussia war 1976 in die Bundesliga aufgestiegen, für mich eine neue Herausforderung. Neulich habe ich Franz Beckenbauer getroffen, der erzählte mir, wie peinlich es für die Bayern damals war, bei uns mit 1:3 verloren zu haben.
Sind Sie mit Dolmetscher gereist?
Nein, ich konnte meist die Landessprache. Englisch, Französisch, auch Spanisch. Ich habe mir viel selber beigebracht. In Tansania habe ich Suaheli gesprochen. 200 Wörter habe ich drauf. Das macht in Afrika Eindruck.
Ist mit 90 Jahren wirklich Schluss?
Nein, ich bin immer bereit. Und dem Herrgott dafür dankbar, dass ich gesund bin. Mein großer Wunsch ist es, als Mentor, als Berater mit Kompetenzen noch einmal einzusteigen. Fast wäre ich beim VfB Stuttgart gelandet. Präsident Bernd Wahler hätte mich geholt, der damalige Manager Robin Dutt wollte mich aber nicht. Dabei hat er von Defensive keine Ahnung. Ich hätte denen meinen Riegel ausgepackt, dann wären sie in der Bundesliga geblieben.