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Bochum: Ex-Straßenkind vom Buddenbergplatz: „Ich war ein leichtes Opfer für die Nazis“

Bochum: Ex-Straßenkind vom Buddenbergplatz: „Ich war ein leichtes Opfer für die Nazis“

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Foto: privat
  • Melanie* (30) landete als Jugendliche im Drogensumpf auf den Straßen NRWs
  • Als sie vor den Drogen flüchtete, fand sie Halt in der rechten Szene
  • Vor acht Wochen brachte sie ihr zweites Kind zur Welt

Bochum. 

„Never surrender“ steht in großen Buchstaben direkt unter ihrem Hals: „Niemals Aufgeben“. Ein Tattoo, das sich bei manchen Menschen wie leere Worthülsen lesen könnte, deutet in Melanies* (30) Fall auf ein bewegtes Leben hin.

Denn Melanie pendelte mit 15 zwei Jahre als Straßenkind zwischen Bochum, Essen und Dortmund. Sie schmiss Drogen ohne Ende, kam ins Heim, wurde verprügelt und riss wieder aus. Um aus dem Drogensumpf zu entkommen, verließ die Hattingerin NRW.

Bochum: Ex-Straßenkind berichtet vom Leben auf dem Buddenbergplatz

Im Interview mit DER WESTEN schildert die frisch gebackene Mutter, wie sie in die rechte Szene rutschte und dass sie ihre Sucht nie richtig losgeworden ist.

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Melanie, du bist mit 15 Jahren auf der Straße gelandet. Warum hast du es zu Hause nicht mehr ausgehalten?

Melanie: „Dort habe ich mich einfach nicht verstanden gefühlt. Weil ich in der Schule so ein typisches Mobbingopfer war, habe ich häufig Prügel kassiert. Und meine Mutter konnte das nicht auffangen. Sie hat mir nicht die Aufmerksamkeit geben können, die ich gebraucht hätte.“

Bestätigung hast du dir dann woanders gesucht?

Melanie: „Genau. Am Bochumer Hauptbahnhof lungerten andere Problemkids rum. Einige hatte ich schon mit zwölf kennengelernt. Als ich schließlich von zu Hause abgehauen bin, haben die mich mit offenen Armen empfangen. Wir haben alle auf ein warmes Bettchen und regelmäßige Mahlzeiten verzichtet. Jeder von uns hat sich irgendwann aus unterschiedlichen Gründen entschieden, das so genannte ‚leichte Leben‘ hinter sich zu lassen. Manche wurden von ihren Eltern geschlagen, andere komplett übermuttert. Ein Kumpel wurde zu Hause regelrecht niederkontrolliert. Es ist am Ende immer ein Ausbruch, um frei zu sein.“

Was hat dir dein neues Leben auf der Straße gebracht?

Melanie: „Ich fühlte mich dort akzeptiert. Mit dem Zusammenhalt wuchs auch meine Sicherheit. Ich war ein komplett anderer Mensch. In der Gruppe haben wir uns unheimlich stark gefühlt. Wer uns angemacht hatte, bekam ordentlich zurück. Richtige Pöbelkids. Die Sicherheit haben wir uns natürlich vor allem durch die Drogen vorgespielt.“

Welche Drogen habt ihr damals genommen?

Melanie: „Wir haben so ziemlich alles ausprobiert, was uns in die Finger kam: Gras, Koks, Pep, Crystal, Pilze. Eigentlich alles außer Heroin. Auf einer Party habe ich 26 Ecstasy-Teile geschmissen. Wir haben sogar Trompetenblumen selbst gepflückt. Im Nachhinein betrachtet, war das alles unglaublich gefährlich.“

Warum war Heroin ein Tabu?

Melanie: „Ich persönlich hatte einerseits extreme Panik vor Spritzen. Auch sonst hat in Bochum damals keiner von uns Heroin genommen. Wir haben ja gesehen, wie fertig die Junkies waren. Am Essener Hauptbahnhof hat mir allerdings ein Bekannter mal einen Schuss angeboten. Aber davon wollte ich einfach nicht abhängig werden. Am Ende besteht doch immer ein Wunsch nach Liebe und Geborgenheit. Der Typ ist auch auf den Babystrich gegangen. Das war schon schlimm. “

Gab es denn niemanden, der euch aus dem Drogensumpf holen wollte?

Melanie: „Doch, natürlich. Besonders die Sozialarbeiter aus dem Sprungbrett werde ich nie vergessen. Die haben nie über uns geurteilt, uns behandelt wie ganz normale Jugendliche. Wenn es so eine Basis nicht gibt, dann vertrauen dir die Jugendlichen nicht und schweigen sich aus. Auch das Jugendamt hat sich um uns gekümmert. Wenn du als Jugendlicher zum vierten Mal in einer Notschlafstelle übernachtest, bekommen die automatisch deine Daten.“

Wie ist das Jugendamt mit dir umgegangen?

Melanie: „Auch die haben alles versucht, um mich zu integrieren. Erst kam ich in eine Jugendauffangstelle. Dann bekam ich einen Heimplatz. Aber die Heimkids haben mich als Straßenkind nicht akzeptiert. Als sie mich zu zehnt verprügelt hatten, bin ich wieder ausgerissen. Auch im betreuten Wohnen bin ich gelandet. Alles gute Versuche. Aber am Ende begann das gleiche Spiel von vorne. Ich bin zwischen den Notschlafstellen in Dortmund, Essen und Bochum hin und her gependelt und habe mit den anderen Zeit totgeschlagen.“

Wie hast du letztlich den Ausstieg aus der Szene geschafft?

Melanie: „Es gab da so Schlüsselereignisse. Als zugedröhntes Mädchen erlebst du auf der Straße extrem gefährliche Situationen. Eine von uns wurde dann schwanger. Sie verlor ihr Kind. Ob es am Crystal lag, weiß ich nicht. Ich hab mich jedenfalls entschieden, von den Drogen runterzukommen.“

Dafür hast du dein gewohntes Umfeld verlassen.

Melanie: „Richtig. Ich bin raus aus NRW, Richtung Norddeutschland. Da bin ich dann wieder an die Falschen geraten. Nazis haben damals die Lücke geschlossen, die mir durch die fehlende Gemeinschaft auf der Straße gefehlt hat. So unintegriert wie ich war, war ich ein leichtes Opfer für rechtes Gedankengut. Mir ein Feindbild einzureden, war nicht schwer. Auch wenn es das nicht entschuldigt, sondern nur im Ansatz erklärt.“

Wie kam es da zum Gesinnungswandel?

Melanie: „Durch gute, private Kontakte, Lebenserfahrung und auch meine Therapie. Mittlerweile habe ich mich dem Milieu komplett entsagt. Bin tolerant und betrachte mich als menschlich.“

Und durch die Therapie bist du clean?

Melanie: „Wenn das mal so leicht wäre. Zuerst hatte ich meine Sucht nur verlagert. Habe anfangs exzessiv Alkohol getrunken und extrem viel geraucht. In Konfliktsituationen ist mein erster Impuls immer noch: betäuben – irgendwie! Hin und wieder wurde ich rückfällig – hab mir Lines gezogen. Wer einmal süchtig war, ist es leider sein Leben lang. Aber ich suche mir heute viel schneller Hilfe als früher, lebe im betreuten Wohnen und habe vor zwei Monaten eine Tochter zur Welt gebracht. Am Ende war das Wichtigste für mich: Vertrauen spüren. Das geben mir hier mein Mann und die Betreuer. Meine Erfahrungen und mein Lebensstil haben bei mir allerdings Depressionen hinterlassen. Aber ich bin jetzt bereit, mir helfen zu lassen. So weit war ich als Jugendliche noch nicht.“

Melanie lebt mittlerweile an der Nordsee. Bevor sie in den Mutterschutz gekommen ist, machte sie eine Reha-Ausbildung als Maßschneiderin für Damenmode. Ihre erste Tochter starb früh nach der Geburt im Jahr 2008 an plötzlichen Kindstod. Am 1. Juli kam ihre zweite Tochter zur Welt: „Sie ist ein Segen für mich“, sagt die Hattingerin, die bald an ihre Ausbildung anknüpfen möchte.

*Name von der Redaktion geändert

Dieser Artikel erschien zuerst im September 2017 auf DER WESTEN.